Das Finale der Monatsgedichte – ein starker Auftakt im neuen Jahr
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Gabriele Lanser gewinnt mit „weißnichtwas“ die 13. Runde der Monatsgedichte
Die Schlussrunde der Monatsgedichte stand unter dem Motto „Tor – Tür Ball Bogen oder Narr“. In der Offenheit des Themas ergaben sich spannende Texte – darunter Wortspiele, Bildgedichte, die insgesamt zeigten, dass der Narr den Weg zur Weisheit kennt oder ein/das Tor gut die Schwelle zu vertieftem Sinn markieren kann. Gabriele Lansers Favoritengedicht „weißnichtwas“ irritiert; es scheint zunächst sogar die lyrischen Grenzen sprengen zu wollen.
Ein Gedicht, das im Dialog entschlüsselt werden will
Carmen Winter, Diplom-Germanistin, Schreibwerkstättenleiterin und Autorin aus Frankfurt (Oder), war in dieser Monatsgedichte-Runde Jurorin. Sie lässt in Ihrer Urteilsbegründung gut erkennen, wie der Dialog zwischen Leser/in und Gedicht verlaufen kann.
Weißnichtwas
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Das ist doch kein Gedicht!
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Vielleicht, vielleicht ist es kein Gedicht. Es sieht jedenfalls nicht so aus, wie ein Gedicht. Es ist ein Block, ein Stein, ein Mauerwerk, abgeschlossen rechts und links und oben und unten mit geraden Zeilenrändern. Kein Flattersatz. Kein Satz flattert in diesem Text. Jeder Satz ist wohlgesetzt und jedes Wort. So gehört sich das in einem Gedicht. Es muss dicht sein.
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Aber wo ist die Lücke, die mich in den Text einlässt? Hallo, ich bin‘s, der Leser, rufe ich und klopfe zaghaft. Dann trete ich einen Schritt zurück und suche das Wortmauerwerk mit den Augen ab. KARL lese ich und NARR. Ist Karl ein Narr? Der Narr Immerfort? Es war im siebenten Sommer, als Karl, als der Narr, als der Vater und die Tanten und das Kind …
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So viele Figuren, das kann kein Gedicht sein. Ins Gedicht gehört ein ICH. Wo ist das ICH in weißnichtwas?
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Es hat sich heute hier neben den Leser gestellt und schaut zurück auf diesen siebten Sommer (der Leser erfährt nicht, wann die Zählung mit eins begann) das ICH schaut zurück auf das Kind, aus dem es herauswuchs und auf alles, was um Karl, den Narren sich an Gerüchten webte. Zielsicher greift das ICH in die übervolle Schale mit den Erinnerungen, greift heraus, was sich dicht weben lässt zu einem Gedicht. Wenn ich als Leser den Faden verfolgen will, muss ich aufmerksam lesen, dann öffnet sich Zeile um Zeile, dann sehe ich das Kind und den Narren und das tiefrote Laub des Kirschpflaumenbaumes, ich höre die Tuschler und das Rabengeschnarr. Ganz deutlich wird alles für einen Augenblick. Für den Augenblick, den es dauert, dieses Gedicht zu lesen, noch einmal und noch einmal, bis es sich ganz erschlossen hat und doch ein Geheimnis für sich behält. Was ist es? Ich weiß nicht was.
Ein Text, der „mehr [weiß] als sein Autor“ und in der Offenheit seine Leser erreicht
In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung spricht Hilde Domin vom „gefräßigen Gedicht“, das sich zunächst den Autor, dann den Leser einverleibt. Dadurch bleibe es lebendig und könne eigenständig in die Welt hinaus. An der Nahtstelle zwischen Carmen Winters Urteilsbegründung und dem folgenden Statement Gabriele Lansers passt dieses Bild Domins exakt. Das Gedicht geht seine eigenen Wege und bewahrt sich ein Geheimnis, das zum wiederholten und darin immer auch neuen Lesen verleitet.
Einen herzlichen Glückwunsch an Sie, liebe Frau Lanser! Ich freue mich sehr, dass Ihr Gedicht die Reihe der Monatsgedichte mit einem so starken Akzent beschließt.
Und hier nun die Vita der Gewinnerin und ihre Gedanken zum Schreiben:
Fakten und Zahlen
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Gabriele Lanser: 1950 geboren in einem Dorf am linken Niederrhein / mit Kartoffelfeuern, Kopfweiden, Märchen, dem rechten Glauben und Aberglauben und den gebundenen Ausgaben der Gartenlaube groß geworden / 1968 Lehramtsstudium in Aachen: Mathematik / Kunst / Religion / später Fernstudium „Literarisches Schreiben“ / verheiratet / drei Kinder / mit Leidenschaft berufstätig bis 2011 / die letzten 15 Jahre Schulleiterin einer integrativen Grundschule am Wohnort Nettetal-Hinsbeck
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Veröffentlichungen seit 1984: Fachbeiträge Pädagogik im Cornelsen und Friedrich Verlag / Kinder- und Lesebuchgeschichten erschienen im Klett-Verlag / Lyrik und Kurzprosa seit 2008 / erste Veröffentlichungen 2011 in Anthologien und Zeitschriften / zuletzt: Prosa im Geest-Verlag und Lyrik in „Asphaltspuren“
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Gedanken zum Schreiben
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Schreiben gehört seit je in unterschiedlicher Intensität zu meinem Leben dazu. Ob Fachtexte im Bereich Pädagogik, Kindergeschichten, Kurzgeschichten oder Lyrik, immer ist das Schreiben für mich ein wunderbar ernstes Spiel mit der Welt, dem Wort und mir. Und wer in diesem Prozess wem die Feder führt, ist ebenso spannend wie offen. Am Ende weiß jeder Text mehr als der Autor. Am Ende gibt der Autor den Text frei und er gehört dem Leser und der belebt ihn neu.
Das Gedicht für mich immer ein Gemachtes, der Schreibprozess ein lustvoll konzentrierter. Am Ende sollte in diesem TextKörper ein Herz schlagen: ob leise oder laut, der Leser sollte es hören können, auch sein Stocken. Dieser Herzschlag kennt keine Angst, nicht die vor dem Pathos, nicht die vor dem Kitsch, nicht vor dem ICH, nicht vor Bekenntnissen. Er ist sich seiner sicher und überschreitet die Grenzen, schlägt sich an allen Überwachungsposten vorbei. Das Gedicht wird in seinem Herzschlag greifbar und angreifbar. Es geht über dünnes Eis.
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Das Projekt Monatsgedichte ist nach dieser dritten Serie abgeschlossen. Sie finden alle Monatsgedicht-Impulse im eBook 39 Monate | 39 Schreibimpulse gebündelt.
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