Die Spielart der Liebe – in der Dichtung immer aktuell: Lyrik-Baustein 11
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Liebesgedichte – durch die Jahrhunderte hindurch lebendig
Welche Liebesgedichte fallen Ihnen spontan ein? Vielleicht Salomos Hohelied mit seinen erotischen Versen? Denken Sie an Sappho und ihre sehnsuchtsvolle Klage? Oder an die von Petrarca besungene Laura, unnahbar in ihrer Idealisierung? Himmelsmacht, Leidenschaft und sexuelles Begehren, romantische Innigkeit und Treueschwur: Die Liebe hat auch im Gedicht zahlreiche Gesichter. Nicht zu vergessen ihre Schattenseiten: Trennung, Herzschmerz, ungestilltes Verlangen.
Du bist mîn, ich bin dîn [1], so beginnt ein Fünfzeiler aus dem 12. Jahrhundert. Er galt lange Zeit als eines der ältesten Liebesgedichte in deutscher Sprache. Das ursprüngliche Bild des verlorenen Schlüssels, der das geliebte Du auf Lebenszeit als Schatz im Herzen einschließt, inspiriert noch heute Dichter, wenn auch unter anderen Vorzeichen:
Ehepaar
in seiner Brust
Käfig in dem sie liegt
in seiner Hand
der Schlüssel
in ihrer Brust
Glastresor in dem er steht
in seinem Kopf
der CodeBernd Jaeger, *1948 [2]
Im Naturbild getarnt
Die Liebesdichtung macht den größten Anteil an der deutschsprachigen Lyrik aus. Nicht selten verschwimmen dabei die Grenzen zum Naturgedicht, dessen poetische Bilder – seien es Jahreszeit, Landschaft oder Sternenhimmel – einer (über)mächtigen Liebeserfahrung weiten Raum geben. Sie veranschaulichen nicht nur, wie es um die Innenwelt des lyrischen Ich bestellt ist, sondern tarnen häufig auch die sexuelle Anspielung. Goethes Heidenröslein ist dafür ein Beispiel: […]Und der wilde Knabe brach/ ’s Röslein auf der Heiden. […]. [3]
Eduard Mörikes lyrischer Sprecher bekundet ebenfalls sein Verlangen mit dem Hinweis auf die weibliche Körperlandschaft: meiner Liebe Thal [4]. Symbol, Metapher und Allegorie begründen in den Texten eine zweite Sinnschicht, ohne dass das Naturbild außer Kraft gesetzt wird.
„Zwei Segel“ als Liebesmotiv
Conrad Ferdinand Meyer feilte lange an seinen Gedichten, so auch an Zwei Segel. Zwölf Jahre liegen zwischen den ersten Entwürfen und der Endfassung von 1882. Nach weiteren zehn Jahren, erst 1892 veröffentlichte Meyer diese Version in seiner Gedichtsammlung unter der Rubrik Liebe.
Zwei Segel
Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
wird auch das Empfinden
Des andern erregt.Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.Conrad Ferdinand Meyer, 1825-1898 [5]
Durch kunstvolle Gestaltung zur Mehrdeutigkeit
Die Segel sind Sinnbild tiefer menschlicher Verbundenheit. Das Schlusswort Gesell – als eine Art Anagramm zu Segel – besiegelt diese Sicht, die der Dichter in den drei Strophen kunstvoll entwickelt. [6]
- Die vier Anfangszeilen geben den Blick auf eine Idylle frei. Die beiden parallel gebauten Verspaare sind im Kreuzreim mit abwechselnd weiblichem und männlichem Ausklang verflochten. Während in Zeile eins und drei die hellen e-Laute überwiegen, verdunkelt das u Vers zwei und vier.
- In der Mittelstrophe kommt Bewegung auf: Fünf w-Alliterationen verschmelzen die Zeilen im Klang. Zugleich wird aus den beiden parallel gesetzten Ausrufen in Strophe eins ein Vergleichssatz, der das konkrete Bild der vom Wind gewölbten Segel zur seelischen Empfindung und Erregung steigert. Mit diesem Bild als Liebesmotiv öffnet sich eine zweite Sinnebene.
- Die Verben in Strophe drei zeigen – in Form der Personifikation – menschliche Handlungen an. Wiederum in zwei parallelen Einheiten führt der Bedingungssatz zum harmonischen Austausch des einen mit dem andern, pointiert im abschließenden Wandel von Segel zu Gesell.
Vom Liebesmotiv zum Liebeskonzept
Sowohl Bernd Jaeger als auch Conrad Ferdinand Meyer rücken die Beziehung zweier Menschen (Stichwort: ‚enger‘ Liebesbegriff) [7] ins Zentrum. Beide orientieren sich in ihrer Bildsprache an realistischen Gegebenheiten und verzichten auf ein lyrisches Ich, das Einblick in sein aufgewühltes Seelenleben gewährt.
Während Jaeger jedoch eine gescheiterte, auf Symbiose und Besitzanspruch reduzierte Partnerschaft vermittelt, zeichnet Meyer gut hundert Jahre früher eine harmonische Ehe, die auf das stille Glück vertraut und sich „in die Ordnungsvorstellungen des Bürgertums im 19. Jahrhundert einfügt.“ [8] Das gegensätzliche Liebeskonzept, das der einengenden Beziehung hier, der innigen Verbundenheit da zugrunde liegt, gibt über den individuellen Gestaltungswillen des Dichters hinaus auch Auskunft über den jeweiligen Zeitgeist.
Liebe im imaginären Raum
Ein alter Tibetteppich
Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.Unsere Füße ruhen auf Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?Else Lasker-Schüler, 1869-1945 [9]
Das Liebesgedicht von Else Lasker-Schüler reflektiert eine tiefe Seelenbindung, die allerdings nur in einen wirklichkeitsfernen Raum bestehen kann. Die Liebe wird wie in den Vorstellungen der Romantiker zur universalen Kraft, die die irdische Realität übersteigt. (Stichwort: ‚weiter‘ Liebesbegriff) [10].
- Die Anrede an das Du setzt mit einem Zitat aus dem Hohelied ein (Zeile eins). Die Seelen als liebende Teile kommen sich in jeder Strophe näher.
- Gleichzeitig mit dem anwachsenden und bunter werdenden Teppich nehmen neue Wortbildungen zu: Sie erwecken den Eindruck sich verdichtender Seelenfäden. Auch Lasker-Schüler dreht das Titelwort: Wird so aus dem Tibetteppich ein mystischer Raum (Teppichtibet), der den Liebenden ein höheres Sein schenkt?
- Die direkte Frage an den Geliebten ist Höhepunkt und zugleich Gefährdung, die sich im vorletzten Vers durch den auffälligen Zeilensprung und die Assonanz ankündigt: Der Wunsch nach körperlicher Berührung zerstört die Utopie einer mystischen Seelenverbindung.
Die Frage nach der Liebe neu gefasst
Wie steht es um die moderne und zeitgenössische Liebesdichtung? Veränderte Geschlechterrollen, die Entfremdung in Massengesellschaft, Technik und Digitalisierung mischen sich ins Liebesrepertoire. Neuronengewitter oder Endorphine sorgen für ungewohnte Motive.
Fragmentierung und Liebesverlust entsprechen dem lyrischen Ich. Eine im romantischen Geist erfüllte Liebe ist passé. Doch anstatt darüber Klagen anzustimmen, fordert Monika Rinck zur Überprüfung alter Liebeskonzepte auf: ich will nichts von dem was ich schon kenne! Folgen Sie ihrem Aufruf:
gefühle an fenstern
supplementäre sehnsucht findet dann statt
wenn sehnsucht dasjenige hinzufügt
was auch der erfüllung, so es sie gäbe, fehlte.
wie abends am fenster im durchmischten licht
das unbekannte mit dem absoluten sich knüpft
und die ferne sich auflöst ins weite. ich rufe:
ich will nichts von dem was ich schon kenne!
ansonsten gibt es kalte einsamkeiten
so wie es in pariser restaurants kaltes huhn gibt.Monika Rinck, *1969 [11]
Anmerkungen:
[1] Anonym: Du bist mîn, ich bin dîn. In: Deutsche Literatur des Mittelalters. Ausstellungskatalog Bayerische Staatsbibliothek. München 2003. S. 34 f.
[2] Jaeger, Bernd: Ehepaar. In: Gnüg, Hiltrud (Hg.): Nichts ist versprochen. Reclam 2003. S. 122
[3] Goethe, Johann Wolfgang: Heidenröschen. In: Wunderlich, Heinke (Hg.): Diese Rose pflück ich dir. Reclam 2001. S. 37
[4] Mörike, Eduard: Zu viel. In: Mayer, Georg Marianus: Eduard Mörike – der „aufgelegte Schweinigel“ […]. Gregor M. Mayer 1989. S. 300
[5 ] Meyer, Conrad Ferdinand: Zwei Segel. In: Conrady, Karl Otto (Hg.): Der neue Conrady. Das Buch deutscher Gedichte. Artemis & Winkler 2008. S. 501
[6] Vgl. Ott, Günter: Die Liebe kommt in Fahrt. In: Augsburger Allgemeine vom 01.10.2013 und
Binneberg, Kurt: Liebeslyrik. Klett 2007. S. 51 ff.
[7] Ebenda S. 7
[8] Ebenda S. 58
[9] Lasker-Schüler, Else: Ein alter Tibetteppich. In: Die Gedichte 1902-1943. Suhrkamp 1997. S. 164
[10] Binneberg, Kurt: Liebeslyrik. S. 7
[11] Rinck, Monika: gefühle an fenstern. In: Verzückte Distanzen. Gedichte. Zu Klampen 2013. S. 27
Dieser Artikel ist unter dem Titel „Mit der Liebe durch die Jahrhunderte“ in der „Federwelt“ (Nr. 141 April / Mai 2020) erschienen.
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