Baustein 9: Ich – drei Buchstaben von Bedeutung
Das lyrische Ich als Erfindung
Wer spricht im Gedicht? Blättern Sie in einer Anthologie und prüfen Sie es. Ist es die Autorin oder der Autor, wenn ein Ich redet, ins Wir wechselt, sich im Du spiegelt oder bedeckt im Hintergrund hält? Erfahren Sie Persönliches aus dem Leben der jeweiligen Lyriker/innen?
Eher nicht, denn gute Gedichte verfremden das Persönliche. So mag zwar ein biografischer Faden rekonstruierbar sein, doch für die Wirkung eines Textes bleibt er nebensächlich. Deswegen begeistern wir uns für die Lieder Sapphos, obwohl wir über ihr Leben kaum etwas wissen.
Selbst wenn in einem Vers der eigene Name steht, ist klar: Das Ich im Text ist der biografischen Realität enthoben. „Vom armen B. B.“ heißt ein berühmtes Gedicht. Obwohl sich der Autor in der ersten Zeile zu erkennen gibt, handelt es sich doch nur um die Stilisierung einer dichterischen Haltung: „Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.“ (1) Als lyrischer Doppelgänger des Dichters ist dieser Außenseiter eine Rolle. Entlehnt ist sie beispielsweise dem Bänkelsang des François Villon.
Der fiktive B. B. pfeift auf Moral und Gesellschaft. Dieses lyrische Ich provoziert, stellt bestehende Verhältnisse infrage und zeigt Lebensalternativen auf. Der Autor Bertolt Brecht nutzt die Rollenrede, um sein Publikum indirekt anzusprechen und zu beeinflussen. Wer im Gedicht spricht, ist immer eine Erfindung des Autors. Dieser „ist nämlich ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut […]; das lyrische Ich ist aber ein Textaspekt, dem man nicht die Hand schütteln kann.“ (2)
Das Erlebnisgedicht als Altlast
Seit Johann Wolfgang Goethe galt – und gilt vielerorts noch immer – das Erlebnis- und Stimmungsgedicht als Lyrik schlechthin. Persönliche Begegnungen und Ereignisse vermengen sich mit den dargestellten Gefühlen und sollen bei der Lektüre nachempfunden werden. Doch bereits Goethe wandte sich gegen diese Gleichsetzung durch „Anecdotenjäger „(3) und verwies auf die ästhetische Dimension seiner Texte: „Der Dichter verwandelt das Leben in ein Bild. Die Menge will das Bild wieder zu Stoff erniedrigen.“ (4)
Das Festhalten am Erlebnis- und Stimmungsgedicht verführte lange Zeit dazu, Autor oder Autorin und das im Text sprechende Ich in einen Topf zu werfen. Erst in den 1970er-Jahren begann man, bei der Textanalyse strikt die beiden Positionen zu trennen. Dabei hatte die Journalistin und Dichterin Margarete Susman bereits 1910 den Begriff des lyrischen Ichs als „kein gegebenes, sondern erschaffenes Ich“ (5) eingeführt.
Als Fazit gilt daher: Jedes Erlebnis, das zum Ausgangspunkt eines Gedichtes wird, ist Stoff. Dieser braucht jedoch Form und Bearbeitung. Nur so wird er zum vielschichtigen Textgewebe, mit dem auch LeserInnen ihre Vorstellungen verknüpfen.
Das Ich-Angebot an Leserin und Leser
„Wer ist [nun] das Ich im Gedicht? – Jeder, der es spricht.“ (6) Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer rät, „sich mit der schlichtesten und greifbarsten Grundlage zu begnügen: dem grammatischen ‚ich’, dem Personalpronomen.“ (7)
Anders als bei den Pronomina der dritten Person, die den Bezug auf ein Nomen benötigen, um zu wissen, wer mit er, sie, es gemeint ist, definiert sich das Ich durch den bloßen Akt der Äußerung: „ich ist, wer spricht.“ (8) Der Sprachwissenschaftler Émile Beneviste nannte das Ich-Pronomen daher ein „leeres Zeichen, […]“ das erst durch den Gebrauch im jeweiligen Diskurs eines Sprechers aufgefüllt werde. (9)
Mit dem lyrischen Ich haben Sie also eine Art Zauberformel zur Hand, die jeden und jede zur Identifikation einlädt.
Ich-Identitäten
Drei Buchstaben nur – und doch haben Sie es mit einem der wichtigsten Wörter der Lyrik zu tun: Ich. Manchmal tritt es in einer Nebenrolle auf und wird zum Objekt mir, mich oder zeigt mit mein ein ihm zugehöriges Detail an.
Mit diesen verschiedenen grammatischen Positionen können Sie in Ihren Gedichten spannende Akzente setzen. Denn bereits mit dem Kasus geben Sie Auskunft über den Stellenwert und Handlungsspielraum , den das lyrische Ich besitzt.
Tritt ein starkes Subjekt als Ich auf? Oder wechselt es in den Objektstatus und schmälert seinen Einfluss? Sind gar nur Teile des Ichs im Gedicht genannt, Zuschreibungen, die einen Ausschnitt betonen? Dann verliert das Ich noch weiter an Selbstbestimmtheit.
Zwei Beispielgedichte mit unterschiedlichen Positionen des lyrischen Ichs
Markieren Sie in den beiden folgenden Beispielen alle Verweise auf ein lyrisches Ich. Wie präsentiert es sich?
Halb Schlaf
Für Uwe Johnson
Und wie in dunkle Gänge
mich in mich selbst verrannt,
verhängt in eigne Stränge
mit meiner eignen Hand:So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus:
[…] (10)Thomas Brasch, 1945–2001
Schnell wird deutlich, dass dieses Ich mit sich selbst uneins ist: mich in mich, mit meiner Hand bestimmen die erste Strophe. Als Subjekt tritt ich erst in der zweiten Gedichthälfte auf, um aber seinen Spielraum sofort einzuschränken: durch die Folgezeile in meinem Schädelhaus. Für die Aussage des Gedichts ist diese Rollengestaltung authentisch. Die Redefigur ist nur in Teilen präsent – wie es der Titel „Halb Schlaf“ ankündigt.
……………… einfache Sätze
. während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
…….Blühn ist ein tödliches Geschäft
… iich habe mich einverstanden erklärt
……………… ich lebe (11)
……………….Helmut Heißenbüttel, 1921–1996
Anders verhält es sich bei Helmut Heißenbüttel. Das dreimalige ich lässt Entschlusskraft spüren. Es unterstreicht die Klarheit, dem Tod ins Auge sehen zu müssen. Die Objektform mich deutet auf eine Integration. Alle Anteile des Ichs – Subjekt wie Objekt – verbinden sich im starken Schlussbekenntnis ich lebe zu einer Einheit.
Quellenangaben:
(1) Brecht, Bertolt: Vom armen B. B. In: Gesammelte Werke 8, Suhrkamp 1967, S. 261
(2) Bode, Christoph: Einführung in die Lyrikanalyse, WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2001, S. 164
(3) Goethe, Johann Wolfgang: Geheimstes. In: Der West-östliche Divan, dtv 1971, S. 28 f.
(4) Derselbe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens / 16: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. Hanser 1985, S. 847
(5) Susman, Margarete: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Strecker & Schröder 1910, S. 18
(6)-(8) Schlaffer, Heinz: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik, In: Poetica 1-2, S. 35-54
(9) Beneviste, Émile: Die Natur der Pronomen. In: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, List 1974. S. 279-286
(10) Brasch, Thomas: Halb Schlaf. In: Was ich mir Wünsche – Gedichte aus Liebe, Suhrkamp 2007, S. 31
(11) Heißenbüttel, Helmut: einfache Sätze. In: Textbücher 1-6, Klett-Cotta 1980, S. 5
Dieser Artikel erschien leicht abgewandelt in der „Federwelt“ (Nr. 127 Dezember 2017)
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Den zehnten und vorerst letzten Beitrag der Serie lesen Sie hier:
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