Lyrik-Baustein 10: Dem Leser auf der Spur

Kategorien: Lyrisches Handwerk,Themen der Lyrik — Tags: , — Michaela Didyk

 leser im blick des autors Foto bunte handgezeichnete Pfeile in verschiedener Richtung

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Schreiben – für wen?

Sind Sie auf der richtigen Spur? Haben Sie beim Dichten Ihre Leser/innen im Blick? Ist es eher die vage Vorstellung von Menschen, die Sie berühren, denen Sie Erfahrungen und Beobachtungen vermitteln möchten? Oder denken Sie an konkrete Personen, wenn Sie neue Verse schmieden –, womöglich gerade frisch verliebt oder, um Ihre Gedichte in der Schreibgruppe zu diskutieren?

Meistens geht es wohl zunächst um das Schreiben an sich, wenn Sie Ihrem Impuls folgen und eine Idee zu Papier bringen. Das Publikum bleibt Randerscheinung. Der Gedanke an Leser, so ein häufiges Argument, bremse den Schwung und verhindere den Flow.

Als „Doppelgänger“ unterwegs

Dabei zielen Gedichte immer auf ein Du. Selbst wenn Sie nur für sich schreiben. In diesem Fall sind Sie, spitzfindig ausgedrückt, Ihr eigener Rezipient. Die Lyrikerin Hilde Domin spricht bei solcher Eigenlektüre sogar vom „Doppelgänger“. (1)

Während Sie nämlich in einem fremden Gedicht den Sinn ergründen und sich ihm assoziierend annähern, kennen Sie als AutorIn Ihren Text samt Entstehungsprozess. Sie blicken auf bereits Geschaffenes zurück und gehen folglich auf Distanz. Sie analysieren und überprüfen.

„[Der Autor] hat gesagt, was er zu sagen hatte […]. Falls ihm aber das Gedicht fern genug rückt […], so kann ihn […] das Sprachliche daran interessieren. Also das ganz konkrete und einmalige Geflecht von Sinn und Wort: wie er es oder wie es sich verflochten hat.“ (2)

„Autor und Leser als Zwillinge“

Dass Sie sich Publikum wünschen, gehört zum Dichten dazu. Nur – wie finden Sie Ihre Adressatinnen? Die Bedeutung des Lesers, der Leserin für ein Gedicht anzuschauen, kann Sie einen Schritt weiterbringen. Denn Ihr Text ist genau der Treffpunkt für die Begegnung:

Mein Gedicht sagt Dir,
was Ich weiß,
es fragt Dich,
was Du weißt. (3)

Ernst Meister (1911–1979)

In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung definiert Hilde Domin den Leser als „Mit-Autor“ (4): Denn Gedichte befreien sich nach der Fertigstellung von ihren Urheberinnen und stehen, auch über Jahrhunderte hinweg, zur Lektüre bereit. Sobald Sie einen (fremden) Text lesen und mit Ihren Erfahrungen füllen, werden Sie Mit-Gestalter/in. Sie frischen das Gedicht auf und halten es am Leben. „Autor und Leser als Zwillinge“ (5) – treffender als mit der Definition Virginia Woolfs, die Domin aufgreift, lässt sich das enge Verhältnis nicht ins Bild setzen.

Die im Gedicht angesprochene Person

Die Rolle des lyrischen Sprechers, und wie Sie bereits mit der Aussage eines Ichs beim Lesen zur Identifikation einladen, war Thema des neunten Bausteins. Was aber geschieht, wenn die Pronomina du oder ihr ausdrücklich genannt sind?

Sobald eine fiktive Person angesprochen wird oder das lyrische Ich sich im Selbstgespräch duzt, richtet sich jede lyrische Anrede zugleich an den konkreten Leser. Oder spitzen Sie etwa nicht die Ohren, wenn Clemens Brentano sein Gedicht mit der Aufforderung beginnt: Hör, es klagt die Flöte wieder? Oder wenn bei Bertolt Brecht An die Nachgeborenen eine Mahnung ergeht: Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenkt (6)? Mit einer ironisch höflichen Frage zieht Gottfried Benn seine Rezipient/innen ins Gedicht: Meinen Sie Zürich zum Beispiel […]? (7)

Die Anrede gestalten und Einfluss nehmen

Ähnlich wie beim lyrischen Ich können Sie das Pronomen als starkes Subjekt du, abgeschwächtes Objekt dich / dir setzen oder auf das besitzanzeigende Pronomen dein zurückgreifen.

In der Mehrzahl ihr dient die Anrede auch dazu, die Zugehörigkeit oder Abgrenzung zu einer Gruppe auszudrücken. Dasselbe gilt übrigens für wir. Gerade wenn Sie politische und gesellschaftskritische Gedichte verfassen, können Sie mit einer solchen Nuancierung die Dringlichkeit der Ansprache variieren und Ihre Leser/innen beeinflussen.

So wendet sich Bertolt Brecht im Beispiel oben an die Nachgeborenen – das Gedicht entstand zwischen 1934 und 1938 –, um zugleich seine Zeitgenossen zum rechtzeitigen Handeln gegen den Nationalsozialismus aufzurufen.

Im Gedicht Wolfgang Hilbigs, das 1979 in der DDR nicht erscheinen durfte, ist dagegen die Abgrenzung offensichtlich, mit der das lyrische Ich seinen Widerstand behauptet.

ihr habt mir ein haus gebaut
laßt mich ein andres anfangen.

[…]

sagtet ihr man soll allein gehn
würd ich gehn
mit euch. (8)

Wolfgang Hilbig (1941–2007)

Der entscheidende Brückenschlag

Eine Einladung, Ihre Gedichte zu lesen und mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen, sprechen Sie durch die Art Ihrer Gestaltung generell aus. Die Anrede an ein lyrisches Du, Sie oder Ihr macht diese Aufforderung umso deutlicher.

Doch Ihre Leidenschaft zu dichten und Ihre Wortkunst allein reichen noch nicht aus, damit Sie Publikum für sich gewinnen. Als dritte Zutat benötigen Sie Orientierung: Wem wollen Sie in Ihrem Gedicht begegnen? Welche Menschen, welche Lesergruppe wollen Sie erreichen? Brauchen Sie ein Publikum für politische Gedichte? Für Sinnsprüche oder Liebeslyrik? Setzen Sie auf Rap-Begeisterte oder auf Lesehungrige, die ihr Ohr an klassischen Texten geschult haben?

Der Weg zu einem realen Gegenüber

Auch wenn Sie beim Schreiben Stoff zu einer poetischen Aussage verfremden, ist mit Abschluss des Textes eine Brücke nötig, die zu einem realen Gegenüber hinführt. Das heißt nicht, dass Sie nach dem Geschmack des Marktes schreiben. Es bedeutet vielmehr, dass Sie sich selbst klar werden, wen Sie mit Ihren Gedichten und der Art des Schreibens ansprechen.

Noch einmal: Welche Leserin, welchen Leser wünschen Sie sich im Idealfall? Eine Checkliste, wie Sie Informationen dazu gewinnen, fkönnen Sie auch mit einem Klick auf das Bild hrunterladen.

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Anmerkungen

(1) Domin, Hilde (Hg.): Doppelinterpretationen. Fischer Taschenbuch 1976, S. 43
(2) Ebenda; S. 39
(3) Meister, Ernst: Mein Gedicht sagt Dir. In: Völker, Ludwig: Theorie der Lyrik. Reclam 1986, S. 120
(4) Domin, Hilde: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1987/1988, Fischer Taschenbuch 1993, S. 47 ff.
(5) Ebenda
(6) Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen. In: Gesammelte Werke, Bd. 9, Gedichte 2, Hg. Elisabeth Hauptmann, Suhrkamp 1967, S. 722 ff.
(7) Benn, Gottfried: Reisen. In: Gesammelte Werke, Bd. 1, Hg. Dieter Wellershoff, dtv 1975, S. 327
(8) Hilbig, Wolfgang: ihr habt mir ein haus gebaut. In: abwesenheit. Fischer Taschenbuch 1979, S. 8

Dieser Artikel ist leicht variiert bereits in der „Federwelt“ (Nr. 129 April /  Mai 2018) erschienen.


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