„Hey Ariadne“ – das dritte Monatsgedicht von Jörg Wiedemann

Kategorien: Projekt Monatsgedichte — Tags: — Michaela Didyk

Die Mythen- und Sagenbände waren in meiner Kindheit immer die dicksten Bände im Regal und gern verschwand ich lesend für Stunden in einer anderen Welt.

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Jörg Wiedemann zeigt, dass aus langen Geschichten auch kurze Texte werden können und dennoch alle Fülle enthalten ist. Frech kommt da sein Anfang, wenn er Ariadne freundschaftlichen Rat gibt.

Hey Ariadne
wirf dein Wollknäuel
in die Meute
streunender Katzen zer

beiß die Ordnung zer
kratz das blanke Gesicht
der Antwort nimm
den Plan auf die Hörner und komm

lass uns mal wieder
gegen Mauern laufen ver
irrt in der eigenen
Wohnung ver
strickt ins Spiel weglos ins
Rätsel (Du weißt ja: Alle Kreter lügen) der

Weingott reicht dir
den Becher Ariadne los zer
schneid alle Fäden
und lass Theseus die dunklen
Segel hissen.

© Jörg Wiedemann

Barbara Ter-Nedden war Jurorin der „Labyrinth“-Runde. Die engagierte Inhaberin der Parkbuchhandlung und Literaturveranstalterin, die neben ihrer erfogreichen Lesereihe im vergangenen Jahr auch den Bad Godesberger Literaturwettbewerb ins Leben gerufen hat, kam zu folgendem Ergebnis:

Barbara Ter-Nedden begründet ihre Entscheidung für „Hey Ariadne“

Das Gedicht besteht aus einer Sequenz von Apostrophen, die an Ariadne gerichtet sind, die hier gleichsam als Muse des Labyrinthischen fungiert. Ariadne, die Tochter des Königs Minos, hatte sich in den griechischen Helden Theseus verliebt, und ihm geholfen, den im Innern des Labyrinths von Knossos auf Kreta hausenden Minotaurus zu töten. Mit Hilfe des von ihr selbst gesponnenen roten Fadens hatte er den Weg zurück aus dem Labyrinth finden können. Das Paar floh auf die Insel Naxos, wo der Gott des Weins Dionysos sich in Ariadne verliebte. Theseus verließ Ariadne und segelte zurück nach Athen. Weil er vergessen hatte, die schwarzen Segel durch weiße auszutauschen, stürzte sich sein Vater Aegeus ins Meer, in der Meinung, sein Sohn sei auf Kreta umgekommen.

Das ist das mythische Material, das hier zu einer spielerischen Abfolge von Vorstellungen anregt, die alle darauf hinauslaufen, sich der Erfahrung des Labyrinthischen auszusetzen, also den roten Faden der Ariadne reißen zu lassen. Das Wollknäuel verbindet sich mit dem Bild der Katzen, die den Faden im Spiel zerreißen, die Ordnung zerbeißen und eine Abfolge analoger Zerstörungen und Verirrungen assoziieren lassen: das Zerkratzen des blanken Gesichts der Antwort, das Auf-die-Hörner-Nehmen des Plans, der Lauf gegen die Mauern, das Verirren in der eigenen Wohnung, und der spielerische Weg in die logische Aporie, also in die Weglosigkeit, für die der Satz des Kreters Epimendes, dass alle Kreter lügen, einsteht. Das anspielungsreiche- und geistreiche Spiel der Assoziationen endet mit der Rückkehr zum mythischen Ursprung: Das labyrinthische Leben ergibt sich dem Rausch und endet im Tod.

Einen herzlichen Gruß schicke ich nach Berlin, wo ich Jörg Wiedemann vor kurzem persönlich kennenlernen konnte. Nicht nur die Liebe zu Mythen, sondern auch die zu (kilo)meterlangen Buchregalen teilen wir :-)

Anstelle einer ausführlichen Vita

Für Jörg Wiedemann gilt die magische Formel, dass aller guten Dinge drei sind. Seine „dritte Vita“ besteht daher in den Verweisen auf seine frühere Favoritengedichte, mit denen er zwei andere Jurorinnen schon überzeugte. Dort finden Sie auch sein Statement zum eigenen Schaffen.