Das erste Monatsgedicht im Januar 2014 | Monika Kafka: „der reine ton / thomaskirche, leipzig“

Kategorien: Projekt Monatsgedichte — Tags: — Michaela Didyk

Monatsgedicht im Januar - Foto Thomaskirche Leipzig

Thomaskirche Leipzig | Wikimedia
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Monika Kafka macht mit ihrem Text den Auftakt der dritten Monatsgedicht-Serie. Unter dem Wettbewerbs-Motto „wo wir wohnen“ lässt sie einen nahezu transzendenten Raum entstehen, in dem Licht und Klang Weite geben. An solchem Ort kann auch der eigene Herzraum „aufgehen“ und zum Gefühl tiefer Geborgenheit führen.

der reine ton / thomaskirche, leipzig
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dezembersonne fließt
mitten in bachs harmonien

diese liebe lässt sich nicht beenden*

verkreuzt im gewölbe
bleibt das einst und jetzt
brandet trotz registersprung

der reine ton, unverschlüsselt
in ein meer aus stille und sprengt

das herzverfugte frei
bevor der tag
sich in das dunkel neigt
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*abwandlung einer textzeile von eva strittmatter
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© Monika Kafka

Günter Ott ist der Juror dieser ersten Runde. Er war Kulturchef der Augsburger Allgemeinen Zeitung und arbeitet auch weiterhin als freier Journalist und Literaturkritiker. Seit Januar 2013 betreut er eine wöchentlich in der Augsburger Allgemeinen erscheinende Lyrik-Serie mit; in ihr werden 100 große Gedichte vorgestellt und interpretiert. Seine Entscheidung für Monika Kafkas Gedicht als Favorit hier im Monatsgedicht-Wettbewerb fasst Günter Ott so zusammen:

Als Leser/in ein Bach-Konzert mithören

Es ist erstaunlich, wenn man liest, dass das große musikalische Werk des Leipziger Thomaskantors J. S. Bach nach dessen Tod 1750 auf Jahrzehnte in Vergessenheit geraten ist. Das hat sich längst geändert. Bach ist unser Zeitgenosse geworden. Davon spricht auch – schon ausführlich im Titel – dieses Gedicht. Es spricht insbesondere vom segensreichen Wirken des Komponisten.

Die Verse lassen Bach und die Dezembersonne harmonisch ineinander fließen – und zwar zu einem durch das ausklingende ie des Auftakts beglaubigten Zusammenhang von „einst und jetzt“, an den die folgende ie-Doppelung („diese Liebe“) unmittelbar anschließt. Es ist gut vorstellbar, dass eine Bachaufführung in der Thomas-Kirche das Gedicht angestoßen hat. Jedenfalls macht es den Leser zum Mithörer. Er wird gleichsam überwältigt von der Macht der Musik („brandet“, „sprengt“), ja geradezu freigesetzt aus der Enge seines Herzens – wobei „herzverfugte“ natürlich auch auf Bachs Werk „Die Kunst der Fuge“ anspielt, ebenso wie die Zeile „verkreuzt im Gewölbe“ den gotischen Stil der Thomaskirche zitiert.

Das – sehr konzentrierte – Gedicht hält einen lichten Moment fest, in dem Befreiung und Erlösung (von „herzverfugtem“) zusammenfallen. Zugleich weiß es darum, dass auch dieses „reine“ musikalische Erleben verklingt.

Konzert und Kirchenbesuch fanden statt – allerdings zeitversetzt, wie mir die Autorin beim Überbringen der Favoriten-Nachricht erzählte. Beim Besuch der Leipziger Thomaskirche im Herbst wollte noch kein Gedicht entstehen. Doch in der warmen Wintersonne am Balkon, die Musik Bachs klang leise aus dem Wohnzimmer, kamen – wen wundert da die Essenz der Zeilen – alle Sinne zusammen.
Im nächsten Abschnitt folgt die Vita der Autorin, doch zunächst: Herzlichen Glückwunsch an Dich, Monika!

Vita Monika Kafka

Ich bin 1960 in Hermannstadt/Siebenbürgen geboren, lebe, liebe und streite seit 1981 in München.
Nach dem Lehramtsstudium /Deutsch/Französisch für Gymnasien/ hab ich mein größtes Hobby, das Lesen, zum Beruf gemacht und arbeite im Hauptberuf als Buchhändlerin.

Schreiben bedeutet für mich in erster Linie Freude. Freude am und im Wort.

Oftmals ist es eine Not_wendigkeit, hin und wieder auch eine Qual – aber jede Zeile bringt mich weiter und gleichzeitig mir selbst näher. Oder, um mit Susan Sontag zu sprechen, ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.

Meine Gedichte und Kurzprosa sind in diversen Literaturzeitschriften / Spiegelungen, Federwelt, Podium, Entwürfe, Wortschau, Kaskaden/ und Anthologien /u. a. 10×10=100, Edition Thaleia, 2009, Vanderbilt Berlin Wall Project der Universität Nashville/Tennesee, USA, 2009/ erschienen, eine erste eigene Publikation, im grüngefädelten licht, im verlag td-textdesign, 2009. Im Web bin ich mit meinem Blog schlüsselworte vertreten.