„ophelia phlegmatisch“ von Sina Klein ist im Juli Monatsgedicht
Die Juli-Runde war mit dem Motto „Mondhelle Nächte“ überschrieben. Der Erdtrabant, bekannt für sein stetes Wechselspiel, blieb auch in Versen eingefangen seinem Prinzip treu: Er spiegelte sich in den vielerlei Facetten der geposteten Gedichte. Sina Klein gewann mit „ophelia phlegmatisch“, einem Text, der den Sog mancher Mondnacht im ungewohnten Blickwinkel umso subtiler spüren lässt:
ophelia phlegmatisch
liegt es an der mondtablette,
halbe, volle – monatstakte –
ihrerstatt statistin einer nacht ?halten tage die gestalt steril ?
– still, halt still für chirurgie:
wir fischen sie aus ihrem bett …formaldehyd-getränkte sie,
ist hell von allen ethanolen,
watte innen, hüllen lakenschnitt / ein tisch – ma belle – skalpelle …
akt seziert zurück sich bis auf szene,
bis auf alles sehnen – dort wo’s klafft –
schläft hamlet.© Sina Klein
Annette Bitsch, Privatdozentin im Bereich Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist mit dem Thema „Mond“ vertraut. Im weiten Bogen der Forschungsschwerpunkte – Medien-/ Kulturwissenschaft, Psychoanalyse, Französische Gegenwartsphilosophie und Posthumanismus – hat die Literatur und Lyrik der Avantgarde 1900 (insbesondere Surrealismus und Expressionismus) bei der Jurorin einen festen Platz. Sie begründet ihr Urteil wie folgt:
Annette Bitsch hat sich für „ophelia phlegmatisch“ von Sina Klein entschieden
Das Gedicht „ophelia phlegmatisch“ codiert eine Situation gegenwärtig-alltäglicher Lebenswelt, eine literarische Tragödie und wissenschaftliches Datenmaterial zu einer mondhellen Saga, blitzartig, surreal, en miniature. Nach einer langen Reise aus dem Jahr 1602 ist Ophelia, „ma belle“, morbide Schönheit mit langer literarischer Tradition, in der Chirurgie des 21. Jahrhunderts gelandet.
Der Tod vermochte die Wunde, die Hamlet zufügte, nicht zu schließen. 400 Jahre später schluckt sie „mondtabletten“ und ist zur „formaldehyd-getränkten sie“, „hell von allen ethanolen“, geworden. Doch auch Anästhesie, auch der „schnitt“ mit den „skalpellen“, können den unsühnbaren Schmerz, „alles sehnen“, die Blutung — „dort wo’s klafft‘ — nicht heilen. Die Szene steht in mondheller Bestrahlung wie in einem Fluidum, sterile Essenzen, weiße „watte“ und „laken“ emanieren Licht zum Mond zurück.
Etwas entgleitet ins Geisterhafte, in die Irrealität. Wo sind wir wirklich? Ist das noch die Wirklichkeit und unser vertrauter, allnächtlich wiederkehrender Mond? Oder sind wir bereits weitergereist und eingezogen in den Radius einer weiteren Ophelia, in den Radius des zweiten von den 27 Monden des Planeten Uranus?
Das Gedicht verzichtet auf ein klassisches Versmaß und verwendet freie Rhythmen, doch gleich lange, vorwiegend parataktische Zeilen und zahlreiche Assonanzen (ophelia/phlegmatisch, mondtablette/volle monatstakte) erzeugen formale Regelmäßigkeit. Die Sätze sind knapp, anakoluthisch, gehen oft in Stakkato über, aber all diese Brüche führen nicht in Desintegration, sondern sind mit kalkulierter Symmetrie arrangiert.
Die formgebende Strenge korrespondiert inhaltlich den in der Chirurgie eingesetzten Maßnahmen zur Desinfektion von Psyche und versehrtem Körper — jedoch bebt darunter das ganz Andere wie ein unheimliches, unberechenbares Ticken. Das überträgt sich auch in den Worten. Kühl sind die Worte, kühl, steril, emotionsfern wie die Ethanole und Seziergeräte, sie sind frei von Trillern, Schnörkeln und adverbialem Plüsch. Und doch pulsieren in ihnen Dionysie und Blutaroma — Worte mit gefährlich scharfer sinnlicher Ladung.
Es sind Worte, Chiffren, Allusionen, die mit dem Skalpell geschliffen wurden. Denn dies Gedicht entstand in der Chirurgie, oder, um es mit Gottfried Benn, dem Spezialisten für die Artistik des Gedichts, zu sagen: im „Laboratorium der Worte“. Es zeugt von brillanter Intelligenz und großem literarischen Können.
An dieses Urteil schließe ich mich gerne mit einem herzlichen Glückwunsch an Dich, Sina, an! – Mit „stadtbausteine“ gehörte die Lyrikerin schon in der ersten Reihe der Monatsgedichte zu den Sieger/innen.
Die Vita von Sina Klein, ergänzt
Sina Kleins Vita aus dem Vorjahr lässt sich nun „weiterführen“. Die Autorin schließt derzeit ihr Romanistik-Studium ab. In ihrer Magisterarbeit setzte sie sich mit 14 Übertragungen von Rimbauds „Ophélie“ auseinander. Der Übergang von Übersetzung zu eigenständiger Lyrik bzw. die Wechselwirkung untereinander und wie die Begriffe Nach- und Umdichtung gebraucht werden, standen im Mittelpunkt ihrer Untersuchung.
Der erste Gedichtband ist im Entstehen. Einzelveröffentlichungen gibt es neben den Texten auf poetenladen.de, wo Sina Klein als Autorin vertreten ist, auch in den Zeitschriften Poet, Federwelt, lauter niemand und Proto.
In Zusammenarbeit mit dem Proto-Magazin und der Essener Post-Rock-Band ‚Volvo Penta‘ veranstaltet Sina Klein seit vergangenem Jahr auch musikalische Lyriklesungen.