Nikolaus Kahlen gewinnt beim Thema „Kreuzungen“ das Monatsgedicht im November
Vom Bildgedicht bis zur Sprachspiegelung – das Thema „Kreuzungen“ inspirierte zu vielfältigen Texten
Wer die Wahl hat, hat die Qual – vor allem wenn viele der Beiträge gefallen. Zum Glück gibt es Kriterien. Das waren für Annette Ahlborn, Lektorin und Inhaberin des Literaturbüro ALecTIS, die diese elfte Monatsgedicht-Runde jurierte: „die Nähe zum vorgegebenen Thema Kreuzungen, dann die Frage, wie sehr mich der Text über die Sprache anspricht (ist die Form bewusst erarbeitet), und schließlich, wie sehr er mich beschäftigt.“ Annette Ahlborn entschied sich für Nikolaus Kahlens Text „anders“. Hier also das neue Montasgedicht für November:
anders
.
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etwas hört auf
etwas beginnt
zu sein
liegt im dazwischen
kreuzen sich linien
und wege leben
vom innehalten
wissen wir
zu wenig
sind wir unbewusst
bleibt das bewusstsein
auf der strecke
etwas
hört auf etwas
beginnt anders
zu sein
.
© Nikolaus Kahlen
Das Spiel mit minimalen Wortverschiebungen – Annette Ahlborn begründet ihre Wahl des neuen Monatsgedichts
Annette Ahlborn, Lektorin und Literaturvermittlerin in Bonn, die an der Edition der Lyrik Brechts mitarbeitete, zeigt, wie konsequent Nikolaus Kahlen auf den unterschiedlichen Gestaltungsebenen seines Textes „Kreuzungen“ vornimmt.
Mein Lieblingstext der November-Monatsgedichte ist der Beitrag anders, der sich durch ein großes Sprachgefühl auszeichnet, das mich zu packen vermag. Darüber hinaus habe ich ihn ausgewählt, weil mich der Text stark beschäftigt. Das vorgegebene Thema Kreuzungen steht im Zentrum der im besten Wortsinn „verdichteten“ Sätze, und zwar in Inhalt, Form und Rhythmus gleichermaßen.
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Inhaltlich kreist der Text um den kurzen Augenblick, an dem wir stehen, wenn wir eine Entscheidung treffen, und der oft durch eine Weggabelung verbildlicht wird (wie z.B. in: „The road not taken“ von Robert Frost). So stofflich wird mein Favorit zunächst nicht, er bleibt im abstrakten Bild der sich kreuzenden Linien.
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Den Moment der Entscheidung erschafft er formal durch die Spiegelung des ersten Gedankens (etwas hört auf / etwas beginnt / zu sein) an den Schluss, hier allerdings aufgebrochen durch den verschobenen Zeilensprung (etwas / hört auf etwas / beginnt anders / zu sein) und einen wunderbaren Kunstgriff: das Hinzufügen des kleinen Wortes anders, das dadurch auch seine Berechtigung als Titel erhält. Hier ist etwas anders geworden, haben sich die Realitäten verschoben. Mit minimalen Wortverschiebungen wird auch weiterhin meisterhaft gespielt: etwas aufhören / auf etwas hören. – Durch die Spiegelung wird eine formale Geschlossenheit erreicht. Dazwischen findet ein Prozess statt, zwischen dem Ende und einem Neuanfang gibt es diesen schwer fassbaren Moment der inneren Entscheidung. Linien kreuzen sich, wege leben / vom innehalten. Wissen wir wirklich, warum wir einen anderen Weg einschlagen, wie viel ist unbewusst, wie viel bewusst gewählt (vom innehalten / wissen wir zu wenig)?
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Betrachtet man das Metrum, so passt sich der Sprachrhythmus dem Sinn an. In den ersten beiden Zeilen laufen Daktylen in eine Betonung aus und setzen so etwas wie einen Punkt (étwas hört aúf / étwas begínnt). Der Gedichtschluss ist gegenrhythmisch gesetzt. Hier leiten genau die Anfangsworte trochäisch (étwas / hórt auf étwas) in einen – zum eingangs benutzen Daktylus gegenläufig zu lesenden – Anapäst über (beginnt ánders) und münden schließlich in einen Jambus (zu seín). Die letzten Zeilen „swingen“ den Leser sozusagen in etwas Neues hinein, sie öffnen eine Tür.
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Wie in Zeitlupe erleben wir in diesem Gedicht den Prozess zwischen Ende und Neubeginn, wir werden mitgenommen an den Punkt, da sich Vergangenheit und Zukunft kreuzen. Hier und jetzt und indem wir auf etwas hören, also durch Verschiebung der eigenen Perspektive, wird Neues erst möglich. Der Prozess vollzieht sich seltsam passiv, die Gegenwart scheint nichts zu sein, was wir, sonst so aktive, Menschen steuern könnten. Wie bei einer Verpuppung, im biologischen Sinn kann man von einer Metamorphose sprechen, bleibt das bewusstsein auf der strecke. Anders steigt es wieder auf.
Nikolaus Kahlen als Autor und Gesangssolist
„Es macht mir Spaß, mich mit Themen konfrontiert zu sehen, die ich ‚irgendwie‘ für mich umsetzen MUSS! Es ist ein bisschen wie ein innerer (Schreib)Zwang“, meinte Nikolaus Kahlen zu seiner Teilnahme bei den Monatsgedichten, als er mir seine Vita zuschickte. Herzlichen Glückwunsch an Dich, Niko!
Nikolaus Josef Kahlen wurde 1957 in Würselen bei Aachen geboren und lebt seit 2002 in Göttingen. Er schreibt Lyrik seit dem Jahr 2000. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften – (z. B. „Maskenball“, „LeseZeit“, „Kurzgeschichten“, „Dichtungsring / Nr.36“) sowie in mehreren Sammelbänden. Zuletzt vertreten in der von Kristiane Allert Wybranietz herausgegebenen Anthologie „Am Ufer der Träume“.
„In Bewegung“ lautet der Titel seines ersten Gedichtbandes (2004 / im Gipfelbuch-Verlag). 2013 erschien sein zweites Buch „an eig’ner nordwand“ im Lyrik Verlag Göttingen.
Was liegt näher, wenn ein Gedichtautor ebenso klassischer Gesangssolist (Bass-Bariton) ist, als eine Verbindung zwischen Lyrik und Musik herzustellen? 2013 wurden einige seiner Gedichte für Klavier und Gesang vertont und von ihm gesungen. Ebenso ist ein Liebesliederzyklus für Kammerorchester und Sologesang aus seinen Werken entstanden. Zur Zeit in Arbeit ist „Tanz und Lyrik“ – ein Projekt mit Instrumentalkompositionen und Balletttanz zu eigenen Gedichten. Besonders im Fokus stehen aktuell auch lyrische Texte zu zeitgenössischen Gemälden.
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‚Meine Texte handeln vor allem von gelebtem Leben, von geliebten Lieben und vor allem von dem, das uns noch mehr beschäftigt als das Erlebte: das Nicht-Erlebte. Die Texte sind Momentaufnahmen, Blitzlichter auf Alltagssituationen, auf das Verborgene in uns, auf so manche Höhenflüge und Tiefschläge des Lebens. Die Vorstellung, dass von mir ausgewählte und aufgeschriebene Worte irgendjemanden erreichen, er sich selbst in diesen Worten wiederfindet, ist für mich etwas unvorstellbar Schönes. So wie es mir bei manchen Texten geht, die ich lese und die mich tief in meinem Innersten berühren und mir eine Erkenntnis, eine neue Sichtweise auf irgendetwas geben, möchte ich auch, dass es mir gelänge, jemanden so tief zu berühren.‘
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Die Website von Nikolaus Kahlen – in allen Kreuzungen von Wort und Gesang :-)