Das Fenster zum Hof – ein Lichtfang? Sophie Paulchen stellt das Monatsgedicht
© Ryan McGuire | gratisography
Eine Sache des Standpunkts oder das reflektierte Licht
„Das Licht in der Landschaft“ lautete das Ausschreibungsmotto für das Oktobergedicht. Dass gerade ein Fenster zum Hof vielleicht solchen Lichtblick nach außen freigibt, verändert die Perspektive. Mit „(k)einraumlicht“ zielt Sophie Paulchen auf einen inneren Vorstellungsraum. Das neue Monatsgedicht im Oktober reflektiert Licht und relativiert es zugleich.
(k)einraumlicht
.
nicht die größe der zelle
(die kann man sich weit denken)
nicht die kahlen wände
(die kann man bekleben)auch das schmale bett nicht
(ist es doch eigentlich gedoppelt nur sieht man es nicht)
das einfache essen in einfachen schalen
nicht
(aus jeder zutat ein gang aus jedem gang ein abend)
die gespräche (essenz eines zwischenuns)das warten die reue schuld monotonie stupiderie
(hinter allem ein irgendwas)allein das fenster zum hof der streifen himmel
wird nie licht
(du weißt
das auf der insel zwischen den wellen lag)
.
© Sophie Paulchen
Das Licht nahe am Abgrund
Stefan Monhardt wählte als Juror dieser zehnten Projektrunde das Monatsgedicht für Oktober aus. Der in Berlin lebende Autor und Übersetzer – der Schwerpunkt seines literarischen Schaffens liegt auf Lyrik und Essays, darunter auch Beiträge für das Politische Feuilleton des Deutschlandradio – begründet seine Entscheidung für „(k)einraumlicht“ so:
Die Urteilsbegründung von Stefan Monhardt
Negation und Aussparung sind mächtige und damit auch verführerische Instrumente. Welcher vollständige Satz könnte je so viel sagen wie ein an der entscheidenden Stelle abgebrochener Satz? Welcher Grund könnte sich mit einem Abgrund vergleichen?
Schon in seinem Titel setzt das Gedicht „(k)einraumlicht“ etwas – um es zugleich durchzustreichen. Das bescheidene Inventar eines eingeschränkten Raums, einer „zelle“: „die kahlen wände“, „das schmale bett“, „das einfache essen in einfachen schalen“. All das – „nicht“. Der Satz bleibt unvollständig. All diese sichtbaren Beschränkungen sind anscheinend nicht das Entscheidende. Sie können durch das Unsichtbare, das Mögliche und Vorgestellte zumindest neutralisiert werden: Die enge Zelle kann man sich weit denken, die kahlen Wände lassen sich bekleben, aus den Bestandteilen des einfachen Essens formt die Phantasie eine Folge von Gängen. Doch mehr als ein neutrales Grau ist dadurch nicht möglich, es bleiben „das warten die reue schuld monotonie stupiderie“.
Doch wenn all das es nicht ist – was ist dann das Entscheidende? Die letzte Strophe beginnt so, als würde sie die Auflösung geben: „allein das fenster zum hof der streifen himmel“. Einzig das also ist es? Aber der nächste Vers setzt überraschend fort mit einer weiteren Negation – allein das Fenster, der Zugang zum Licht und zum Draußen, wird selbst „nie licht“.
Das Fenster zum Hof als Zugang zu einem Erinnerungsraum
Nun geschieht etwas Erstaunliches. In den letzten beiden eingeklammerten Versen des Gedichts wird plötzlich ein „du“ angesprochen. Dem Leser wird vielleicht erst an dieser Stelle klar, daß im gesamten Text ein „ich“ konsequent ausgespart war: Es entstand nur als der Rand der benannten und imaginierten Gegenstände, als Grenze zwischen Konkretem und Gedachtem. Lediglich in einem flüchtigen „zwischenuns“ tauchte für einen Moment eine Relation zwischen einer ‚ersten’ und einer ‚zweiten’ Person auf.
Jetzt wirft dieses unsichtbare Ich durch das Fenster zum Hof einem unerreichbaren Du in einem anderen Raum und einer anderen Zeit einen Faden zu. Es sind der Raum und die Zeit einer miteinander geteilten Erinnerung. Nur die Genauigkeit dieser Erinnerung – „du weißt“ – verbürgt noch eine einstige Gemeinsamkeit. Das Fenster zum Hof, der Streifen Himmel wird nie „licht“ – jenes Licht, das einst „auf der insel zwischen den wellen lag“. Die rettende Erinnerung wird zu einem Abgrund, der die Gegenwart verschlingt.
Nun habe ich etwas getan, was ich eigentlich gar nicht mag: Ich habe ein Gedicht ‚nachbuchstabiert’ und es damit dauernd vereindeutigt und vereinnahmt. Was ich zeigen wollte, ist nur dies: „(k)einraumlicht“ ist kein selbstverliebtes Spiel mit verführerischen sprachlichen Instrumenten. Es behauptet keinen Abgrund, sondern reißt einen Abgrund auf.
„no excuses“ – Sophie Paulchen hat das tägliche Schreiben im Blick
„meinzeit“ nennt Sophie Paulchen den Raum für ihr Schreiben und hält sich – ob beim #earlypoem, vor allem bei #frapalymo – konstant daran. Was sich hinter diesen beiden Begriffen versteckt, erklärt die Dichterin gleich selbst. Zuvor kommen aber nochmals viele Glückwünsche für Dich, liebe Sophie! Viel Erfolg – auch im November beim bald wieder anstehenden #frapalymo.
als gewünscht noch mit wahrheitsgemäß enddreißigerin blogge ich informatives, gedichte und prosastücke, twittere jeden morgen ein #earlypoem sowie weitere verdichtete texte. im november 2011 habe ich „frau paulchens lyrik monat“ (oder kurz #frapalymo) im web initiiert und dabei zu „30 tagen, 30 gedichte, no excuses“ aufgerufen. seit dem ersten gehversuch schreitet der #frapalymo mit zunehmender resonanz und wachsender mitdichterschaft voran – zuletzt im mai 2014 mit rund zwanzig dichtern und mehr als 500 gedichten in 30 tagen. eine tolle erfahrung und ein nichtmehrmissenwollen.
eine eigenständige publikation oder ein abdruck in einer literaturzeitschrift ist bislang nicht erfolgt. eine „fragmentpublikation“ befindet sich jedoch in arbeit und sucht mit mir den anderen weg. neben der lyrik konzentriere ich mich auf mein ausstellungskonzept und auf kurzprosa. schreiben ist für mich vor allem der versuch, das „zwischen“ zu erforschen und ihm raum zu geben.
www.paulchenbloggt.de | auf Twitter: @FrauPaulchen
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