Ein „Dinggedicht“ ist im August Favorit
Marlies Blauth gewinnt mit ihrem besonderen Dinggedicht atomkraftwerk beim Projekt Monatsgedichte
Rainer Maria Rilkes Dinggedicht „Das Karussell“ gehört zu den bekannten Beispielen dieser lyrischen Gattung. Doch hat ein Dinggedicht in unserer Zeit noch Bestand? Richard Mayr, Juror für das Monatsgedicht im August, geht dieser Frage nach. Er spricht Marlies Blauths moderner Version den Lorbeerkranz zu. Mit „atomkraftwerk“ hat die Künstlerin und Lyrikerin dem Dinggedicht eine neue Ausrichtung gegeben.
atomkraftwerk
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überall
streift dich dieser schatten
aus beton.
nein –
der reißt nie
sagt man.
aber hinter den zäunen
der eingemauerte gott
ist alt geworden.
an manchen tagen
regiert er mit zitternder hand.
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© Marlies Blauth
Richard Mayr, Kulturredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung – als Literaturkritiker auch selbst Autor – kommt zu folgendem Urteil:
„Eine technisch geprägte Ding-Welt“ – Richard Mayrs Urteilsbegründung
Dinggedichte gehören zu einer schwierigen, vielleicht auch aussterbenden lyrischen Form. Die Dinge sprechen zu uns heutigen anders, als noch vor 100 oder vor 200 Jahren, als sie Lyriker inspirierten. Unsere Ding-Welt ist technisch geprägt, in ihr verbirgt sich der Ingenieursgeist. Diesen Geist lyrisch zu bergen, dort mit Worten hinabzureichen, fällt den Dichtern, fällt der Dichtung schwer. Je moderner die Technik wird, desto rätselhafter, desto verborgener, desto spezieller ist sie. Unsere Ding-Welt will sich der Sprache entziehen.
Die Technik als Thema im Dinggedicht
Genau dort müssten moderne Ding-Gedichte die Sprache hintragen. Eines der eingereichten Ding-Gedichte geht diesen Weg. Es stellt ein Groß-Ding, ein Symbol-Ding in den Mittelpunkt. Es ist „atomkraftwerk“ betitelt. Der Weg, der nun beschritten wird, führt nicht ins technische Innenleben hinein, sondern daran vorbei. Ein „Schatten aus Beton“ versperrt den Blick. Damit steht das Atomkraftwerk auch sinnbildlich für die meisten unserer technischen Gerätschaften. Und das wache, betrachtende Auge wird beschwichtigt und gleichzeitig ermutigt. Der Schatten reißt nicht. Dort, wo die Gefahr verortet wird, muss es nicht hinblicken. Alles ist in Ordnung. Und dann springt das Gedicht. Sagt es doch, was hinter dem Schatten aus Beton, hinter den Zäunen eingesperrt ist. Ein eingemauerter Gott, der alt geworden ist. Und wir stellen uns diesen Gott nicht freundlich vor. Welcher Gott freut sich schon, wenn er anstelle eines Tempels in einer Bunker-ähnlichen Anlage verwahrt wird.
Das Dinggedicht als Experiment
Die Technik bekommt an dieser Stelle göttliche Kräfte zugesprochen. Es ist der stärkste Moment des Gedichts. Ein Gedanke bricht ein, der nicht abwegig ist. Die moderne Technik ist weit in göttliche Sphären eingedrungen. Sie ist dafür da, die großen Menschheitsprobleme qua Fortschritt zu lösen.
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So weit die Ahnung in diesem Gedicht trug, die letzten beiden Verse trüben den Eindruck. Dunkelheit fällt nun dorthin, wo davor Klarheit war. Der eingemauerte Gott soll einer sein, der an manchen Tagen mit zitternder Hand regiert. Ist er böse? Vernichtet er dann die Menschen? Schickt er seine Becquerel-Einheiten dann aus? Wofür steht dann dieser Gott? Nur Ahnungen bleiben und eben der Eindruck, dass dieses Ding-Gedicht im Trüben endet.
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Trotzdem: Es war derjenige Versuch, den fernsten Ort der technischen Ding-Welt aufzusuchen. Deshalb gebührt ihm der Lorbeer.
In mehreren Künsten zuhause – Marlies Blauths „Zusammenschau“ und Vita
Die Siegerin beim Thema „Dinggedicht“ ist schon bei einem Monatsgedicht früherer Serie vertreten. Ihr Beitrag zu den „Nachtgedanken“ im Dezember 2011 hatte ein Schattenthema anderer Art behandelt. – Zum neuen Gewinn, Marlies, herzliche Glückwünsche!
Vita und Statement der Lyrikerin zeigen, dass Marlies Blauth nicht nur in der Wortkunst zuhause ist und ihre Impulse aus allen Sparten künstlerischen Schaffens empfängt:
Marlies Blauth (*1957 in Dortmund) studierte bei Anna Oppermann, Wil Sensen und Bazon Brock an der Universität Wuppertal (1981 Staatsexamen Kunst/ Biologie; 1988 Diplom Kommunikationsdesign), einige Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Rainer K. Wick (Forschungsschwerpunkt: Bauhaus), bis 2011 Lehrbeauftragte für Grundlagen der Gestaltung und Freie Grafik
Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, Themenbereiche Mensch – Natur – Metamorphosen / Zeit – Spiritualität
Seit 2006 literarische Beiträge in Anthologien und Zeitschriften, u. a. in verschiedenen Jahrgängen der Versnetze (Hrsg. Axel Kutsch), mehrere regionale Auszeichnungen (z. B. Dorstener Lyrikpreis 2013)Nachtrag: 2015 erschien der Lyrikband zarte takte tröpfelt die zeit (Nordpark Verlag, Wuppertal), 2017 Dornröschenhaus (Athena-Verlag, Oberhausen). Inzwischen ist Marlies Blauth auch Mitglied bei der GEDOK (Bildende Kunst und Literatur).
Nicht nur in der Kunst, auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert
„Mein Vater war Musiker, ich wuchs mit täglichen Klängen auf, und die Berührung mit lyrischen Texten war selbstverständlich. Beeinflusst hat mich andererseits auch das Leben in einer Region, die sich damals durch Bergbau und Stahlproduktion definierte, deren Kultur, inmitten von so rauen wie herzensguten Menschen, immer am Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit festhielt. Mein interdisziplinär-künstlerisches Empfinden und Denken wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt, weil ich Synästhetikerin bin; später wurde es innerhalb meines Studiums verfeinert und vertieft. Visuelle und verbale Äußerungen sind in meiner Arbeit vielfach verbunden; ich finde es immer wieder reizvoll, mit bekannten, ja alltäglichen Mitteln neue Zusammenhänge zu schaffen und auf diese Weise zu ent-decken. Dass ein Gedicht die Worte, die wir sprechen, auf seine unnachahmliche Weise nuanciert, erstaunt und begeistert mich ständig.“
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Unter KUNST | Marlies Blauth, dem Blog der Lyrikerin und Künstlerin, finden Sie zahlreiche Bilder und weitere Texte.
- Das erste Siegergedicht der Lyrikerin:
„Nachts“ von Marlies Blauth | Monatsgedicht Dezember 2011 - Weitere Favoriten im Autorenprojekt Monatsgedichte:
„restposten“ von Werner Bliß | Monatsgedicht Januar 2010
„ungewiss Wünschbares“ von Katja Vogel | Monatsgedicht September 2014