„Unflugfähig“ – das Monatsgedicht für November

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Giuseppe Arcimboldo: Der Bibliothekar (1570)

Unflugfähig wäre wohl auch Arcimboldos Büchermensch unter dem Gewicht seiner Folianten. Doch ein „kafkaesker Traum“ im November – was könnte besser passen für diesen immer so grau empfundenen Monat. Jörg Wiedemann hebt in seinem poetischen Porträt gerade alle Schwere auf  und gibt der bizarren Welt – nicht nur der Franz Kafkas – neuen Anschein.

Unflugfähig

… im Gleichnis hast du verloren.

Kratzt sich
hinterm K. Kopf
sein Schloss und Riegel unterm
Deckflügel flügger
Vorhänge verwandelt sich
Samsalabim in
das kriechende Kerbtier

(Bitte betrachten Sie mich
nur als einen Traum
auf Stummelfüssen)

umkreist so lange heiß
den Brei bis
beim Kichern in den Schmäh
bauch es in ihm ertrinkt komplex

das eintägliche Auge schwimmt
noch oben
klettert hinaus
türmt ins Büro
zwinkert Freud zu legt
abends sich ( und eine Träne)
aufs Kanapee träumt
vom Autodafé
(von herzverbrannten Fliegen).

© Jörg Wiedemann

 

Margrit Manz traf für das Novembergedicht die Auswahl. Die Jurorin, die ihre Meriten im Aufbau zweier literarischer Einrichtungen  – 1991 die literaturWERKstatt berlin und 2000 das erste Literaturhaus der Schweiz in Basel – verdient hat, ist auch Mitbegründerin des renommierten ‚Open Mike’ sowie der Werkstatt für ‚Spoken Word’ und ‚Lyrics’ in der Schweiz. Ihre Entscheidung begründet Margrit Manz so:

 Margrit Manz über das Gedicht „Unflugfähig“ von Jörg Wiedemann

Natürlich ist ein Käfer unflugfähig, auch wenn es ihm gelingt seinen Kerbtierkörper anzuheben und in gewisse Höhen zu schrauben. Doch irgendwie landet er wieder da, wo er abgehoben hat. Es ist so wie mit dem Grashalm. Hat der Käfer die erste Hälfte erklettert, neigt sich durch sein Gewicht die vordere Halmspitze zu Boden. Ob er will oder nicht, er krabbelt an den Ausgangspunkt zurück. Erst im Traum, auf dem Käferrücken liegend, die Stummelfüße zappelnd himmelwärts gerichtet, ist eine Verwandlung erlaubt. Kichernd umkreist er im Traum den heißen Brei, in den er fast noch fällt. Freund Freud kurz zugezwinkert, hinterm Käferkopf gekratzt, trägt er seinen Schmäh-Bauch ins Büro. Verwandelt sich erneut, vielleicht in einen Menschen, und unflugfähig auch jetzt, beginnt er sein ganz alltägliches Abenteuer.

Aufgabe für das Novembergedicht war es, ein Porträt in poetischen Worten zu zeichnen.
Für mich wurden Thema und poetische Bilder am eindrucksvollsten im Gedicht „Unflugfähig“ umgesetzt. Der Dichter hat es verstanden, dem Text Leichtigkeit und Tiefe zu geben, der Sprache Humor und Virtuosität zu verleihen und den Bildern von Traum und Wirklichkeit, besser gesagt, den Mühen des Tages und der Nacht, Präsenz zu verleihen. Reich an verwandelten Materialien und Zitaten wurden die Worte präzise gesetzt, keines davon ist Zweitlösung oder Zufälligkeit.

Ob Gleichnisse gewonnen oder verloren sind, sie bleiben letztendlich Gleichnisse. Sie sind, was sie sind! So wie beim Leoparden und dem Tempel:
„Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer;
das wiederholt sich immer wieder;
schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird Teil einer Zeremonie. (Franz Kafka)

Herzlichen Glückwunsch nach Berlin zu Jörg Wiedemann, einem Autor, der voller Ideen steckt und vor allem auch als Lesender in der Literatur zuhause ist.

 Jörg Wiedemann und sein Erfahrungen mit dem Schreiben

Unter dem Motto „Rolle rückwärts oder vorwärts: Schreiben als existenzielle Turnübung“ hat Jörg Wiedemann jüngst in einer Diskussion sein Schreiben auf einen Nenner gebracht:

“Es ist das Staunen, das unbeherrschbare Hantieren mit dem Riesenspielzeug, eine Mechanik, die ich nie ganz verstehe und gerade deswegen bewundere.
Es ist Musik, Klang und besonders Rätsel, Kaleidoskop.
Dieses enigmatische Moment, das poetische, verdichtete Sprache inne hat, inauguriert, fasziniert und erschreckt mich zugleich.
Und es ist der Hiatus zur Alltagssprache zum medialen Geplapper, diesen Symplegaden, der mich antreibt und verlorenen Bedeutungen neue Gewichte verleihen möchte.

Im Schreiben, im Vers spüre ich Lebendigkeit, so wie wenn ich auf der Bühne stehe und in eine Rolle schlüpfe, es ist diese Maske, diese stets erneuerbare Larve, die mich visionär stimmt.
Oft fühle ich auch die zu großen Schuhe, Kleider, die nie passen werden.

In erster Linie schreibe ich für mich, vielleicht als psychologisches Ventil, vielleicht als opakes Teilverstehen, als nomadisches und monadisches Streifen durch die schmerzhafte allgegenwärtige Vergänglichkeit unseres Seins, einer Ontologie, der ich mich immer ein wenig ausgeliefert fühle und zu der ich beim Wortefinden um ein paar Millimeter näher zu kommen scheine.
Ich sammle schöne Worte, eindringliche Verse, verlorengehendes ‚Sprachmaterial‘ und bin am Ziel, wenn manchmal ein Satz, ein Vers, selten ein Gedicht so eine eigene Corona hat und sich illuminiert.“

Weitere biografische Daten des Gewinners, der bereits in der ersten Monatsgedicht-Serie unter den Favoriten war, erfahren Sie in der Vita an früherer Blogstelle.