Baustein 6: Die Wirkung gebundener Sprache

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Wirkung gebundener Sprache Versmass Rhythmus Martin Opitz und Eichendorff - Reihen mit Kreisen aus Notenlinien und Noten

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Rhythmus und Versmaß, teils auch Reim und Strophenform bestimmen die gebundene Rede. Was in der Prosa im zufälligen Nebeneinander von Wortbetonung, Sprachmelodie und Tempo nur ein Rauschen ist –, im Gedicht ist es absichtsvoll gestaltet. Wer träumte da beim Lesen von Joseph von Eichendorffs bekanntem Lied Mondnacht nicht gleich mit?

Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus. (1)

Joseph von Eichendorff (1788–1857)

Das rhythmische Gefühl als Hebel aller Wirkung

Die moderne Dichtung hingegen bevorzugt den freien Vers. Reim und regelmäßiges Metrum gelten als Fessel. Oder doch nicht?

grubenpferde

[…]

ein zuckerwürfel und ein büschel gras;
ein wind auf schwarzer wiese, wo ein hund
die bäume scheuen läßt. die kinderhand,
ein zuckerwürfel. und ein büschel gras. (2)

Jan Wagner (*1971)

Vielleicht ist wie in Wagners Blankversen* nur Erfindergeist nötig, um den konventionellen, oft eintönigen Klang gebundener Rede zu vertreiben. Auch Bertolt Brecht (1898–1956) schlug diesen Weg ein: „Ich brauchte Rhythmus, aber nicht das übliche Klappern.“ Allerdings lag für Brecht in der freien Handhabung des Verses „die große Verführung zur Formlosigkeit“. (3)

Davor hatte schon Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) eindringlich gewarnt: „Über das allein Ausschlaggebende, die Wahl der Worte und wie sie gesetzt werden müssen (Rhythmus), wird immer zuletzt beim Künstler der Takt, beim Hörer die Empfänglichkeit zu urteilen haben. […] Es scheint beinahe niemand mehr zu wissen, daß das [rhythmische Gefühl] der Hebel aller Wirkung ist.“ (4)

Auf Versfüßen unterwegs

Der Barockdichter Martin Opitz (1597–1639) reformierte die deutsche Dichtersprache. Vers- und Wortakzent, seitdem die gültige Regel, müssen zusammenfallen, um Tonbeugungen mit falschem Wortakzent zu verhindern. Machen Sie die Probe aufs Exempel! Denn wie hört sich dieser Blankvers an, wenn Sie nur auf das Metrum achten: ein unwetter auf der wiese, wo ein? Wohl mehr als schräg.

Opitz forderte weiter, das Versmaß streng einzuhalten. Er favorisierte vier gängige Taktarten aus der antiken Dichtung, auch Versfüße genannt. Diese dienen als kleinste feststehende Einheit, um zunächst unterschiedliche Versarten aufzubauen, aus denen sich die Strophen und schließlich die einzelnen Gedichtformen ergeben.

Den zweisilbigen Versfüßen, dem Jambus |XX| (Gedicht) und Trochäus |XX| (Dichtung) gab Opitz den Vorrang. Betonte Silben (Hebungen) und unbetonte (Senkungen) folgen hier exakt aufeinander, sie alternieren. So ergeben sie eine gleichmäßige Melodie, die je nach Versanfang (unbetont/betont) heitere oder düstere Stimmung vermitteln kann.

Die beiden dreisilbigen Taktarten bringen mit zwei unbetonten und schneller gesprochenen Silben kraftvolle Bewegung: Der Anapäst |XXX| betont die dritte Silbe (analog), der Daktylus |XXX| die erste Silbe (freudige).

Im Baukastensystem zum Vers

Regelmäßige Verse zeichnen sich durch eine festgelegte Anzahl und Abfolge von Versfüßen aus. Joseph von Eichendorff legt der Mondnacht einen dreihebigen Jambus zugrunde: „Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküßt“. Ein vierhebiger Trochäus bestimmt die folgenden Zeilen Heinrich Heines (1797–1856): „In dem Traum siehst du die stillen / Fabelhaften Blumen prangen“.

Vers commun und Endecasillabo als Sonettverse

Fünfhebig variiert der Jambus je nach Herkunft:*

  • Als Vers commun mit einer Zäsur im Versinnern ist er aus der französischen Literatur übernommen. Martin Opitz empfiehlt diesen nur in der Barockdichtung verwendeten (all)gemeinen Vers für Sonette:

Komm schwarze nacht! | umbhülle mich mit schatten
[…]
(Anonym, aus der Neukirchschen Sammlung 1697)

  • Der in Italien beliebte Endecasillabo (Elfsilber) wurde mit festem Reimschema zu einem Standardvers der deutschen Sonettdichtung.

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden
Der Widerwille ist auch mir verschwunden
Und beide scheinen mich gleich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

Ohne Reim – der Blankvers

  • Reimlos und flexibel, diente der für Shakespeare typische Blankvers vor allem als Dramenbaustein. Friedrich Schiller übernahm das Metrum  für seine Ballade:

Das verschleierte Bild zu Sais

[…]
Indem sie einst so sprachen, standen sie
In einer einsamen Rotonde still,
Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert
Blickt er den Führer an und spricht: „Was ists,
Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“
„Die Wahrheit“, ist die Antwort. – „Wie?“ ruft jener,
„Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
Gerade ist es, die man mir verhüllt?“
[…]

Friedrich Schiller (1759-1805)

Eine zeitgenössische Version haben Sie oben im Gedicht grubenpferde schon kennengelernt. Vielleicht ermuntern Jan Wagners Blankverse Sie zu einem eigenen Versuch? Ein Tipp: Wenn Sie anfangs mit einsilbigen Wörtern experimentieren, gelingt es leichter, Hebungen und Senkungen im Vers richtig zu verteilen.

Der Alexandriner als Sonettvers der Barockdichter

Aus sechs Jamben bestehend und gereimt, setzt der Alexandriner nach der dritten Hebung einen deutlichen Einschnitt: „Der schnelle Tag ist hin || Die Nacht schwingt ihre Fahn“, heißt es bei Andreas Gryphius (1616-1664). Neben dem bereits erwähnten Vers commun schätzten die Barockdichter gerade auch den Alexandriner für ihre Sonette.

Ingeborg Bachmann nimmt den Vers auf und sprengt die überlieferte Form – reimlos und mit teils verkürzter Zeile:

Böhmen liegt am Meer

[…]
Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.
[…] (5)

Ingeborg Bachmann (1926–1973)

Das Zusammenspiel von Daktylus, Spondëus und Hebungsprall

Auch die dreisilbigen Takte treiben ihr Kombinationsspiel: Aus daktylischen Versfüßen bauen sich der Hexameter und – in seiner ersten Hälfte auch – der Pentameter auf. Zu letzterem beim Distichon gleich mehr.

Friedrich Hölderlin setzt im Gedicht Die Eichbäume den Hexameter. Der Vers besteht aus sechs Daktylen, wobei der letzte Takt immer nur eine Senkung besitzt. Es ist ein Spondëus, in dem die beiden kurzen unbetonten Silben des Daktylus durch eine lange Silbe ersetzt werden.

Da dieser Wechsel zu einem Spondëus im Vers bereits bei den ersten vier Daktylen möglich ist, lässt der Hexameter viel Variation zu. Er wirkt im Wechsel von Daktylus (dreisilbig) und Spondëus (zweisilbig) lebendig, zumal auch die Zäsur an unterschiedliche Stelle rücken kann. Nur nach dem dritten Takt liegt sie ungünstig; der Vers zerfiele dabei in zwei gleiche Hälften.

Die Eichbäume

Aus den Grten komm‘ ich zu euch, | ihr Shne des Berges!
Aus den Grten, | da lebt die Natur | geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt | mit dem fleißigen Menschen zusammen.
Aber ihr, | ihr Herrlichen! steht, | wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt | und gehrt nur euch und dem Himmel,
Der euch nhrt‘ und erzog, | und der Erde, | die euch geboren.
[…]

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Das Distichon – zwei Zeilen, die es in sich haben

In der zweizeiligen Form des Distichons gesellt sich zum Hexameter (erste Zeile) ein Pentameter (zweite Zeile). Dieser Fünffüßler ist im Gegensatz zum Hexameter streng festgelegt:

  • Der dritte Versfuß muss ein Spondëus sein, und zwar mit zwei Hebungen hintereinander, so dass es zum charakteristischen Hebungsprall kommt.
  • Mit dem Hebungsprall ändert sich das Versmaß des vierten und fünften Fußes in den Anapäst.
  • Der Hebungsprall beschert dem Pentameter in fünf Takten sechs (!) Hebungen.

Diese Theorie verbindet Friedrich Schiller im folgenden Merksatz gleich mit der Praxis:

Im Hexameter steigt | des Springquells flüssige Säule,
Im Pentameter drauf | fällt sie melodisch herab.

Friedrich Schiller, Xenien

Zum Nachvollzug nochmals das Distichon in den Taktnamen:

Spondëus Daktylus Spondëus Spondëus Daktylus Spondëus
Spondëus Daktylus Spondëus mit Hebungsprall Anapäst Anapäst

Friedrich Hölderlich zeigt zudem in seinem Zweizeiler, dass die für das Distichon typische Zuspitzung genau im Hebungsprall der zweiten Zeile liegt und eine Umkehr in der Aussage bewirkt: Die Freude schlägt in Trauer um.

Viele versuchten umsonst | das Freudigste freudig zu sagen,
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.

Friedrich Hölderlin

Sein Distichon verdeutlicht die freiere Gestaltung im Hexameter der ersten Zeile:

Daktylus Daktylus Spondëus Daktylus Daktylus Spondëus
Spondëus Daktylus Spondëus mit Hebungsprall Anapäst Anapäst

Strenges Versmaß oder das lebendige Wort

Takte zu zählen und den exakten Abstand zwischen Hebung und Senkung mit einem Metronom zu bestimmen, geht das in der Lyrik nicht zu weit? Gerhard Rühm führt eine solche Messung in seinen 15 dokumentarische(n) sonette(n) vor.

Der Wiener Dichter füllt die für das Gedicht herangezogenen Zeitungsartikel mit sich wiederholenden Silben und Wörtern zum Endecasillabo (Elfsilber) auf: Kunst und Alltag zeigen ein gebrochenes Verhältnis, wenn die Berichterstattung der Tagespresse in klassische Sonettverse gegossen wird und darüber hinaus die Festspielkultur zum Thema hat.

Die Hebungen kennzeichnet Rühm entsprechend dem „unnachgiebig taktierende[n| metronom“ mit Akzenten, die „den vortragenden zu strikt metrischer artikulation [zwingen]“. (6) Die schon mit der Textauswahl beabsichtigte Ironisierung ist nochmals verstärkt:

Aus: dokumentarische sonette
dienstag, 29. 7. 1969
publikumsjubel um die „meistersinger“

auch áuch in díesem jáhr hat sích der grósse
pupúblikúmserfólg der vórvorvór-
vorjáehrigéngen „méistersínger“- vór
neuínszeníerung wíeder ín in grósse

baybáyreuth éingestéllt: minúten- grósse
lang júbeltén und trámpeltén die vór
[…] (7)

Gerhard Rühm (*1930)

Vom Skandieren zum Rezitieren

Diesem starren Skandieren steht das Rezitieren gegenüber. „Ein Metrum besteht theoretisch, der Rhythmus nur praktisch“, (8) heißt die Formel, die den Vers aus der zu strengen Abfolge von Hebung und Senkung und dem damit häufig verbundenen Klappern befreit.

Verszeile und Satzeinheit, Atempause und Verseinschnitt, die im sinngemäßen Sprechen die Zeile gliedern, korrespondieren mit dem Rhythmus, der unserem Körper innewohnt. Unser Herzschlag und Atem sind Grundmaß, das die rhythmische Bewegung ins Gedicht überträgt und daran erinnert, dass Lyrik ursprünglich mit Musik und Tanz einherging.

Versmaß und Rhythmus in Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“

Das Zusammenspiel von Metrum und Rhythmus kann das eingangs zitierte Gedicht von Joseph von Eichendorff veranschaulichen: Der exakt gebaute dreihebige Jambus unterstreicht die Klarheit der Sternennacht und die Harmonie zwischen Himmel und Erde. Leichtfüßig im unbetonten Versauftakt, steht dieses Metrum für eine aufsteigende Bewegung. Die poetischen Bilder sprechen alle Sinne an und laden mit dem im Lufthauch wogenden Korn ein, sich bei der Lektüre auf den Seelenflug durch die magische Mondnacht einzulassen.

Im Gleichmaß des Taktes fallen jedoch Änderungen in der Schlussstrophe auf. Betonungen verschieben sich an die für die Aussage wichtige Stelle.

  • Mit dem Zeilenumbruch spannte / Weit beginnt Eichendorff diesen Wechsel rhythmisch aufzubauen und die Aufmerksamkeit beim Lesen subtil umzulenken. Das Enjambement, das Übergreifen des Satzes in den nächsten Vers, erzeugt eine Pause am Zeilenende und betont im Übergang zur neuen Zeile Weit. Der Akzent verlagert sich und ermöglicht einen machtvollen Daktylus mit drei Silben am Versanfang: Weit ihre Flügel aus.
  • Die Alliteration Flügel / flog / als flöge bindet die drei Schlusszeilen eng aneinander. Das ebenfalls am Zeilenbeginn unregelmäßig betonte flog wird zum Höhepunkt, an dem der Traum Wirklichkeit zu werden scheint.
  • In der letzten Zeile flauen die in den beiden Daktylen intensivierte Atembewegung und die dreifache Steigerung (Rhythmus) ab: Der Vers kehrt in den für das Gedicht regulären dreihebigen Jambus zurück (Metrum).

 

Quellenangaben:

* Siehe zur Vertiefung auch: Taubert, Gesine: Kurze deutsche Verslehre. 2. Aufl. Herben 2006 oder wortwuchs.net
(1) Mondnacht. Eichendorff, Joseph von. In: Siehst du den Mond? (Hg. Dietrich Bode). Reclam 2010, S. 52 f.
(2) grubenpferde. Wagner, Jan. In: Zwischen den Zeilen, Nummer 25. Urs Engeler 2006, S. 70
(3) Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Brecht, Bertolt. In: Gesammelte Werke, Band 19, Suhrkamp 1973, S. 396 und 402
(4) Poesie und Leben. Hofmannsthal, Hugo von. In: Der Brief des Lord Chandos, Reclam 2000, S. 40 f.
(5) Böhmen liegt am Meer. Bachmann, Ingeborg. In: Sämtliche Gedichte. Piper 1998, S. 177
(6) dokumentarische sonette. Rühm, Gerhard. In: um zwölf uhr ist es sommer. Reclam 2000, S. 164
(7) dokumentarische sonette, dienstag, 29. 7. 1969, publikumsjubel um die „meistersinger“. Rühm, Gerhard. Ebd. S. 167
(8) Frey, Daniel: Einführung in die deutsche Metrik mit Gedichtmodellen. Wilhelm Fink 1996, S. 18

Dieser Artikel erschien lin kürzerer Fassung in der Federwelt (Nr. 119 August 2016)

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