Baustein 12: „Hier ruht das Land“ – Naturwahrnehmung im Gedicht

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Buchenurwald mit hügeligem Moosboden, Stämme im Nahblick nur etwa in zwei Meter Höhe zu sehen. Foto zu Naturlyrik

Buchenurwald: Urs-Beat Brändli / wikimedia CC BY-SA 4.0

Naturlyrik und ihre Vielstimmigkeit

Locus amoenus, einen lieblichen Ort, nennt man den Topos (Gemeinplatz), der seit der Antike eine ideale Landschaft beschreibt. Sechs Motive prägen – bis ins 16. Jahrhundert hinein – das Ortsbild: zunächst mit Baum, Wiese, Quelle und Bach, dann kommen Vogelgesang und Blumen hinzu.[1]

Auch wenn sich die liebliche Idylle in der mittelalterlichen und barocken Literatur zum christlichen Paradies wandelt, bleibt der antike Topos bis ins 18. Jahrhundert lebendig. Allerdings lockern sich mit Beginn der Aufklärung die stereotypen Vorgaben der Naturlyrik. Barthold H(e)inrich Brockes findet sein Irdisches Vergnügen in Gott durch die sinnliche Betrachtung einer Ameise oder Kirschblüte:

Kirschblüte bei der Nacht

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt, es könne nichts von größrer Weiße sein.

Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
von zierlich-weißen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers aufgefunden werden.

[…]

Barthold Heinrich Brockes, 1680–1747 [2]

Albrecht von Haller (1708–1777) feiert dagegen in seinem Langgedicht die Schönheit der Alpen. Eine höhere Macht wirkt in Natur und Kosmos und gibt eine Ordnung vor, an der sich auch der Mensch orientiert. So führt das innige Erleben der Natur zugleich zur Erfahrung religiöser Einheit.

Die große geheimnisvolle Macht

Doch die Natur ist mehr als nur unfassbare Ausdehnung und Wunder. Sie unterliegt auch dem Wechsel von Geburt und Tod. Der Blickwinkel verschiebt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Natur gilt als große geheimnisvolle Macht. Sie bringt hervor und nimmt zugleich. Ihr ist das Individuum ausgeliefert.

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, in dieser hymnischen Anrufung feiert Friedrich Gottlieb Klopstock die Natur und setzt sie in seiner wegweisenden Ode Der Zürchersee an die Stelle des Schöpfergottes.

Aus: Der Zürchersee

[…]

Jetzo nahm uns die Au in die beschattenden
Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt;
Da, da kamest du, Freude!
……Volles Maßes auf uns herab!

Göttin Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich!
Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,
Deiner Unschuld Gespielin,
……Die sich über uns ganz ergoß!

Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft
In der Jünglinge Herzen,
……Und die Herzen der Mädchen gießt.

[…]

Friedrich Gottlieb Klopstock,1724–1803 [3]

Die Natur wird zu einer sprechenden Instanz. Sie tritt dem Dichter entgegen und will gedeutet werden. Kann das gelingen? Wohl doch nur zum Teil, denn auch die genaueste Naturbetrachtung bleibt auf einen Ausschnitt beschränkt. So ergeben sich stets Brüche.

Die Verwandtschaft von Natur und Poesie

Die Romantiker (1795–1830) entdecken den Schlüssel zur Heilung im verwandten Wesen von Natur und Poesie. Unter der verführerischen Oberfläche der Natur verberge sich, so die Überzeugung, eine zweite Realität, die ihrerseits zum Ausdruck drängt. Diese Sprache im Buch der Natur zu erkennen und zum beseelten Zauberwort eines Gedichts werden zu lassen, macht Joseph von Eichendorff in seinem berühmten Vierzeiler Wünschelrute zum Programm.

Wünschelrute

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Joseph von Eichendorff, 1788-1857 [4]

Die naturmagische Schule

Die moderne Naturlyrik kommt in den 1920er Jahren auf. Nach Großstadtlyrik und Arbeiterliteratur erwacht abermals der Sinn für die Natur. Elisabeth Langgässer (1899–1950), Oskar Loerke (1884–1941), Wilhelm Lehmann (1882–1968), eine Generation später dann Günter Eich (1907–1972) und Peter Huchel (1903–1981), gelten als Hauptvertreter der naturmagischen Schule.

Vorfrühlingswald

Schatten wie Hunde im grauen Gewaid,
Schwarzdorn beflockt von der Häsinnen Kleid.
Sterne, wie milchig. Von Starre erlöst.
Leben, wer lebt dich? Wer ist’s, der dich west?

Murmelnde Munde. Es steigt und verrinnt.
Surren und Sausen. Die Uralte spinnt.
Windgepeitscht, wirrt sich das Schlafgarn vom Strauch –
hört sie ihn ächzen? Und hört sie sich auch?

Grundwasser quillen. Geheimes Gefühl
zittert und zuckt durch der Erde Gestühl.
Yggdrasils Härte, sie harzte und schmolz,
und eine Gottheit wird hangen am Holz.

Elisabeth Langgässer, 1899–1950 [5]

Die Dichter/innen in dieser Sparte der Naturlyrik greifen die romantische Auffassung der beseelten Landschaft auf, verknüpfen damit jedoch das Erbe des 19. Jahrhunderts, nämlich den Anspruch, die Natur en detail ins Auge zu fassen und einen erkennbaren Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Vorbild sind Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) und Eduard Mörike (1804–1875), die früh schon ihre Motive und Themen aus der unmittelbaren Lebenswelt bezogen und auf die realitätsnahe Darstellung großen Wert legten.

Naturlyrik ohne Pathos und Überschwang

Im Kontrast zum emotional ausladenden Stil des vorangegangenen Expressionismus und unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit wird die Sprache der modernen Naturdichtung gleichsam ausgenüchtert. Pathos und Überschwang sind passé, der Blick richtet sich auf Einzelheiten und buchstabiert die Landschaft:

Winterliche Miniatur

Übers Dezembergrün der Hügel
eine Pappel sich streckt wie ein Monument.
Krähen schreiben mit trägem Flügel
eine Schrift in den Himmel, die keiner kennt.

In der feuchten Luft gibt es Laute und Zeichen:
Die Hochspannung klirrt wie Grillengezirp,
die Pilze am Waldrand zu Gallert erbleichen,
ein Drosselnest im Strauchwerk verdirbt,

der Acker liegt in geschwungenen Zeilen,
das Eis auf den Pfützen zeigt blitzend den Riß.
Wolken schwanger vom Schnee, verweilen
überm Alphabet der Bitternis.

Günter Eich, 1907–1972 [6]

Die erste Generation der naturmagischen Dichterschule um Wilhelm Lehmann wird in den 1950er Jahren zunehmend kritisiert. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatten die Lyriker in ihrer inneren Emigration drängende politische und soziale Fragen ausgeklammert. Angesichts der Kriegsschuld und des Holocausts gerät die Fluchtbewegung in die Naturidylle nun massiv unter Verdacht.

Die Umwelt im Blick

Seit den 1960ern schlägt die Naturlyrik verstärkt die politische Saite an. Die Natur ist bedrohte Umwelt geworden. Hans Magnus Enzensberger intoniert in seinem Trauergesang (Nänie) schon Ende der 1950er Jahre den endgültigen Abschied:

Nänie auf den Apfel

Hier lag der Apfel
Hier stand der Tisch
Das war das Haus
Das war die Stadt
Hier ruht das Land.

Dieser Apfel dort
ist die Erde
ein schönes Gestirn
auf dem es Äpfel gab
und Esser von Äpfeln.

Hans Magnus Enzensberger, *1929 [7]

Das Motiv des Apfels ruft die Erinnerung an das Paradies wach. Doch die Frucht hat wenig Erkenntnis gebracht. Der lyrische Sprecher hält von einem Ort außerhalb der Erde sarkastisch Rückschau. Die Menschheit ist ausgelöscht.

Ein halbes Jahrhundert später zeigt Titus Meyer (*1986) in der menschengemachten Zerstörung von Umwelt und Klima eine andere Form der Bedrohung. Das Anthropozän ist eingeläutet: Der Mensch ist die neue Erde. [8]

Schreiben im Anthropozän

Die zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyriker reflektieren das Verhältnis zur Natur global und in längeren Zeitdimensionen. Yoko Tawada (*1969) antwortet mit Fukushima (5) [9] auf die Atomkatastrophe in Japan. Daniel Falb (*1977) thematisiert Klimaveränderung im Spiegel streitbarer Wissenschaften: die gletscher schieben alles herum, bringen unordnung in geologische / zeugenschaft, hinterlassen schürfwunden im felsgestein. [10]

Die Gedichte betonen die Mitverantwortung des Menschen für den zukünftigen Zustand der Biosphäre [11] und wollen entsprechend sensibilisieren. In Skizze vom Gras entwirft Silke Scheuermann die kritische Utopie einer zweiten Schöpfung:

Skizze vom Gras

Es war das Jahr, in dem sie das Ministerium für Pflanzen auflösten,
da die Erde nicht mehr genug Arten beherbergte, für die
der Aufwand sich gelohnt hätte. Der Minister und seine Mitarbeiter
wurden Verkehr und Technologie zugeschlagen, der Abteilung,
die schneller wuchs als Organisches.

[…]

Silke Scheuermann, *1973 [12]

Nature Writing mit literarischem Anspruch

Auch im Nature Writing geht es um eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der Natur. Die intensive Erkundung einer Landschaft, eines Baumes oder Tieres wirft nicht nur ein neues Licht auf die Phänomene, sodass sie ein Stück weit wieder fremd und geheimnisvoll erscheinen. Die vertiefte Wahrnehmung führt vor allem dazu, neben eigenen Gefühlen und Erfahrungen auch kulturelle Prägungen zu prüfen und gegebenenfalls zu erweitern.

Gilbert White und Henry David Thoreau als Pioniere

Die angloamerikanische Literatur kennt – mit den Pionieren Gilbert White (1720–1793) und Henry David Thoreau (1817–1862) – diese Schreibtradition seit rund 200 Jahren. Im deutschsprachigen Raum gab es bis vor wenigen Jahren kaum eine Entsprechung. Tagebücher, Reiseberichte, Romane und Naturlyrik fallen darunter. Der Begriff ist weit gefasst, die Zuordnung der Texte daher oft umstritten. Drei grundlegende Merkmale sind jedoch für das Nature Writing obligatorisch [13]:

  • Die literarische Ausarbeitung fußt auf leibhaftiger[r] Begegnung und Auseinandersetzung mit nichtmenschlichen Lebewesen, mit mehr oder weniger naturbelassenen Räumen […]. [14] Diese natürliche Mitwelt kann vom Menschen kulturell sowie technisch geprägt sein.
  • Die im Werk vermittelten Wahrnehmungen und Erfahrungen sind authentisch und daher bevorzugt in der Ich-Perspektive auszudrücken.
  • Nature Writing ist mit einem hohen literarischen Anspruch verbunden und setzt sich so von wissenschaftlichen Abhandlungen ab.

2017 erhält Marion Poschmann (*1969) den damals neu ausgelobten Deutschen Preis für Nature Writing. In der klassischen Lyrik, so die Dichterin in ihrer Dankesrede, bildet der Baum in der Regel die stimmungsvolle Kulisse für menschliche Gefühlslagen. […] Doch der Baum als solcher bleibt stets ein Geheimnis […], an dem die Sprache scheitert. [15]

In der forcierten Kunst der Wahrnehmung liegt für Poschmann die Möglichkeit, die „eigene partielle Blindheit zu überwinden“. [16] Nature Writing bedeutet nicht Imitation oder Projektion, sondern Evokation. Henry Thoreau macht es anschaulich: Durch die Blätter eines guten Buches wird man so etwas wie Waldgeräusche klingen hören. [17]

Quellenangaben:

[1] Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 6. Auflage. Francke 1967, S. 191 ff.
[2] Brockes; Barthold Heinrich: Kirschblüte bei der Nacht. In: Der Große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Erweiterte Neuausgabe. Ausgewählt und herausgegeben von Karl Otto Conrady. Artemis & Winkler 2008, S. 213
[3] Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Zürchersee, Ebenda, S. 234
[4] Eichendorff, Joseph von: Wünschelrute. Ebenda, S. 397
[5] Langgässer, Elisabeth: Vorfrühlingswald. In: Vollmer, Hartmut (Hg.): Der Wald. Gedichte. Reclam 2008, S. 49
[6] Eich, Günter: Winterliche Miniatur In: Heukenkamp, Ursula (Hg.): Der magische Weg, Deutsche Naturlyrik des 20. Jahrhunderts, Reclam 2003, S. 143

[Umwelt und Anthropozän]

[7] Enzensberger, Hans Magnus: Nänie auf den Apfel. In: Blindenschrift, Suhrkamp 1999, S. 49
[8] Meyer, Titus: Der Mensch ist die neue Erde. In: Bayer, Anja und Seel, Daniela (Hg.): All dies hier, Majestät, ist deins, Lyrik im Anthropozän, kookbooks 2016, S. 115
[9] Tawada, Yoko: Fukushima (5). Ebenda, S. 214
[10] Falb, Daniel: die gletscher schieben alles herum, bringen unordnung in geologische. Ebenda, S. 162 f.
[11] Goodbody, Axel: Naturlyrik – Umweltlyrik –- Lyrik im Anthropozän. Ebenda, S. 288
[12] Scheuermann, Silke: Skizze vom Gras. In: Skizze vom Gras. Gedichte. Schöffling 2014, S. 95 ff.

[Nature Writing]

[13] Fischer, Ludwig: Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur. Matthes & Seitz 2019, S. 45 ff.
[14] Ebenda, S. 45
[15] Poschmann, Marion: Zur Poetik des Stadtbaums. In: Richter, Steffen und Rötzer, Andreas (Hg.): Dritte Natur 01 | 1.2018. Matthes & Seitz 2018, S. 125
[16] Poschmann, Marion. In: DIE ZEIT | 04.04.2007, Nr. 15, www.zeit.de/2007/15/Natur-Serie
[17] Thoreau, Henry David. Zitiert nach Goldstein, Jürgen: Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing. Matthes & Seitz 2019, S. 124

  • Der Beitrag ist in leicht veränderter Form in der Federwelt (Heft Nr. 146/ Februar 2021) erschienen.

Zwei Schreibimpulse zum Thema Naturlyrik finden Sie ebenfalls hier im Blog.

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