Baustein 2: Wörter als lyrischer Werkstoff

Kategorien: Lyrisches Handwerk,Themen der Lyrik — Tags: — Michaela Didyk

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Wörter und Wortarten – anders als in der Alltagssprache

Im Atelier eines Bildhauers sehen Sie es sofort: Die Skulptur entsteht, indem der Künstler sie aus dem Rohstein herausschlägt. Das ist Knochenarbeit und setzt das Wissen um die Eigenschaften dieser Gesteinsart voraus. Und überhaupt – wählt er Basalt, wählt er Marmor?

Beim Dichten vergessen wir durch den Alltagsgebrauch der Sprache oft, dass sie ebenfalls Ausgangsmaterial ist, das erst Verwandlung braucht. Auf welche Wörter greifen Sie also zurück? Wie gut kennen Sie Ihren Werkstoff? Das lyrische Handwerk kommt hier ins Spiel.

Die drei grundlegenden Wortarten – Substantiv, Verb und Adjektiv – bilden das Ausgangsmaterial für Ihre Gedichte. Wie Sie bereits aus der Zutatenliste für Gedichte und aus dem ersten Baustein wissen, setzt die lyrische Sprache auf Lücken. Sie braucht Klarheit, aber nicht die Eindeutigkeit der Alltagssprache, die auf ein direktes Verstehen angewiesen ist.

Im Gedicht befreien sich die Wörter von festgelegten Bedeutungen und können so ungewohnte Verbindungen eingehen. Nicht fest verfugte Sätze, sondern mehr oder weniger lose Wortreihen und Satzfetzen, absichtliche Wiederholungen oder Gegensätze bauen eine neue Syntax auf, in der das Sprachmaterial seinen poetischen Zauber entfalten kann. Die verschiedenen Wortarten setzen dabei spezifische Akzente in Ihrem Gedicht.

Der Nominalstil für flexiblen Worteinsatz 

Hätten Sie das gedacht? Den Substantiven kommt beim Dichten die Favoritenrolle zu. Lassen Sie mit vielen Hauptwörtern den Nominalstil überwiegen, erreichen Sie größere Abstraktion. Denn sie lassen sich leicht aus dem gewohnten Satzbau herausreißen und isolieren. So ziehen sie – oft in loser Reihung – die Assoziationen des Lesers auf sich.

Brille, Buch, Uhr liegen /
neben dem Bett wie Notizen, /
[…] [1]

Hendrik Rost, *1969

Die dänische Dichterin Inger Christensen (1935-2009) vergleicht Substantive mit einem Kristall, der zwar Wissen in sich abkapselt, uns jedoch zugleich Perspektiven eröffnet:

Seide ist ein Substantiv. Substantive sind sehr einsam. Sie sind wie Kristalle, […] betrachte sie genau in all ihren Graden der Durchsichtigkeit. […] Schreib [das Wort Seide] auf ein Stück Papier, und es bleibt unbeweglich stehen, aber deine Gedanken und Gefühle sind schon unterwegs zu den fernsten Winkeln der Welt. [2]

Ein Vorteil für die lyrische Aussage – Wortarten gehen ineinander auf

Oft übernimmt auch ein Verb in seiner Grundform diese Funktion (siehe unten: im gehen). Kommt hinzu, dass der Dichter generell kleinschreibt, verschwimmen die Grenzen der Wortart. Ob ein Substantiv oder ein Verb vorliegt (tritt//… hervor), klärt sich nicht immer eindeutig und kann feine Sinnverschiebungen ergeben.

klare abende im gehen. /
die stufen im kies /
an den füßen tritt /
die mechanik der steine /
noch einmal hervor /
[…] [3]

Lutz Seiler, *1963

  • Tipp: Prüfen Sie, ob Substantive (vor allem im Singular) nicht zu abgehackt wirken, wenn Sie auf den Artikel verzichten.

Die anhänglichen Adjektive – nur bedingt geeignet für die lyrische Sprache

Im Verbund mit den Substantiven tauchen in der Alltagssprache oft Adjektive auf. Während sie hier eine Sache lebendig ausmalen, hängt ihnen lyrisch ein schlechter Ruf an. Die Dichterin Ulla Hahn (*1945) geht hart mit ihnen ins Gericht und nennt sie „emotionales Schmieröl“, vor dessen Einsatz man sich hüten solle. [4]

Vorschnell nehmen Adjektive die Substantive in Beschlag und schränken so bei der Gedichtlektüre den Raum für Assoziationen ein. Setzen Sie daher die „anhänglichen“ Eigenschaftswörter bewusst und vor allem gegenläufig zu stereotypen Verbindungen (wie blauer Himmel, schwarze Nacht et cetera). Oft hilft es, Adjektive hinter ihr Bezugswort zu stellen. Dadurch sind sie ebenfalls isoliert und aus der Verklammerung gelöst. Zudem kann sich – wie in den folgenden Zeilen – über den Umbruch hinweg sogar eine neue Wort- und Gedankenverbindung ergeben:

[…]
Äpfel rot /
Blühendes Herbstblatt /
[…] [5]

Marie Luise Kaschnitz, 1901-1974

Möglich ist auch, kontroverse Adjektive oder Wortkombinationen aneinanderzureihen. Das Oxymoron ist ein Stilmittel, das auf extremen Widerspruch setzt: Schwarze Milch (Paul Celan, 1920-1970), Sachliche Romanze (Erich Kästner, 1899-1974) oder traurigfroh (Friedrich Hölderlin, 1770-1843).

  • Tipp: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Leser/innen mit eigenen Vorstellungen in einen „offenen“ Text einsteigen können: Vermeiden Sie das Auschmücken Ihrer Verse durch unnötige Adjektive, Adverbien oder Füllwörter.

Mit Verben beschleunigen und Gefühle ansprechen

Tätigkeitswörter vervielfältigen sich ins Uferlose. Sie lassen sich nicht nur in den Dienst unterschiedlicher Personen (ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie) stellen, sondern durchwandern sämtliche Zeitebenen und Möglichkeitsformen.

[…]
ich liebe den Herbst er /
wittert, posaunt die Farben heraus, brennt /
[…] [6]

Friederike Mayröcker, *1924

Verben bringen so nicht nur eine Fülle, sondern auch Bewegung ins Gedicht, die häufig auf das Tempo Einfluss nimmt, beschleunigt und sich dazu eignet, starke Empfindungen zu vermitteln.

Im ausgefeilten Wortspiel mit geringfügigen Nuancierungen – Wortfamilien bieten sich dafür an – kann eine solche Ansammlung durchaus gewünschte Irritation hervorrufen. Denn so folgen Ihre LeserInnen Ihren Zeilen aufmerksamer. Texte mit einem Übergewicht an Verben entwickeln meist einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

[…]
ich bin würde ich nicht sein wäre ich /
war ich nicht werde ich sein bin ich nicht /
[…] [7]

Günther Schulz, *1946

Poetische Neuwortbildungen, um  den Werkstoff Sprache zu erweitern

Seepferdchen und Flugfische betitelt der Dadaist Hugo Ball sein Gedicht. Welche Wortart würden Sie folgenden Klanggebilden zuweisen?

tressli bessli nebogen leila /
flusch kata /
[…]

Hugo Ball, 1886-1927

Poetische Neuschöpfungen müssen nicht immer so extrem ausfallen, dass der Klang jede Wortart außer Kraft setzt. Doch sie stechen aus einem Gedicht heraus und verdeutlichen, dass die Lyrik in unentdecktes Sprachgebiet vordringt.

Zwei Verfahren für Neuwortschöpfungen

  • Verschmelzen Sie mehrere Wörter. Else Lasker-Schüler versinnbildlicht so in Ein alter Tibetteppich die Seelenverwobenheit der Liebenden und unterstreicht die Intensität der Beziehung bereits optisch:

[…]
Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit /
Maschentausendabertausendweit. /
[…]

Else Lasker Schüler, 1869-1945

  • Umgekehrt lassen sich Wörter verkürzen, durch den Umbruch aufspalten oder im Klang stark einfärben. Thomas Kling setzt in seinem Werk auf das „Hörbarmachen der Texte, also in der Performance“. Dafür müsse alles dem Gedicht eingeschrieben sein. [8]

[…]
ATEM-SCHUTZ-GERÄTE-TRÄGER-LEHRGANG was /
für ssauntz! unter pokalen, fuß- /
balltrophäen die azurminiträgerin the- /
knblond. – GERÄTETRÄGERLEHRGANG IN A. /
[…] [9]

Thomas Kling, 1957-2009

Auch wenn Sie in Ihren Experimenten weniger weit gehen, sammeln Sie mit neu gebildeten Worten Erfahrungen und lernen Ihren Werkstoff kennen. Sie spüren, wie die Sprache sich „unter ihren Händen“ formt – und sich Ihnen widersetzt oder fügt. Wichtig bleibt, dass Ihre Worterfindung in den Sinnaufbau Ihres Gedichts eingebettet ist, zugleich aber genug Spielraum hat, als Besonderheit zu wirken.

Im Baustein zur lyrischen Bildsprache werde ich das Thema nochmals aufgreifen. Denn auch im gleichzeitigen Ansprechen verschiedener Sinne entstehen Neuschöpfungen: Golden wehn die Töne nieder, dichtet Clemens Brentano (1778-1842). Wem die Beispiele von Hugo Ball oder Thomas Kling zu ungewohnt sind, wird mit diesem Vers, der die Sinne verschmilzt, wahrscheinlich versöhnt sein.

 


Die Qualität Ihres poetischen Handwerks zeigt sich im gelungenen Vers.
Dazu gehört, dass Sie es unserer Zeit entsprechend anwenden.

  Für das zeitgenössische Schreiben sind die folgenden Formen tabu:

  • Der vorangestellte Genitiv – des Königs Palast, (des) Mannes Mut – spart in Versen, die ein bestimmtes Maß erfordern, Silben. Verwenden Sie diese Genitivform nur vereinzelt und verzichten Sie zugleich auf weitere konventionelle Mittel.

→ Ersatz kann die zusammengesetzte Form sein (Königspalast) oder ein Enjambement, das die Stellung trennt (Mut des/ Mannes).

  • Das Partizip Präsens – kommend, singend – lässt sich mühelos isolieren und verknappt so Sätze. Doch auch diese Form wirkt antiquiert, mehr noch – sie macht den Text schnell schwerfällig.

→ Ein einfacher Infinitiv oder ein Präpositionalgefüge schaffen Abhilfe.

  • Er blühet, schweiget – diese Formen gehören der Vergangenheit an.

→ Eine „Überlebenschance“ besteht nur bei stilistischer Verfremdung und Ironisierung.


  • Quellenangaben:

[1] Schlaflosigkeit III. Rost, Hendrik: Im Atemweg des Passagiers. Wallstein 2006. S. 34
[2] Christensen, Inger: Der Geheimniszustand und das „Gedicht vom Tod“. Essays. Carl Hanser 1999. S. 32
[3] heimleuchten. Seiler, Lutz: im felderlatein. Suhrkamp 2010. S. 48
[4] Hahn, Ulla: Klima für Engel. Deutscher Taschenbuchverlag 1993. S. 111
[5] Wenn aber die Kinder. Kaschnitz, Marie Luise: Gesammelte Werke. Bd.5. Insel 1985. S. 281
[6] Furor: Klage Anklage Ohnmacht. Mayröcker, Friederike: Gesammelte Gedichte (1939-2003). Suhrkamp 2004. S. 460
[7| Hamlet-Monolog. Schulz, Günther: Rezensierte Gedichte. LCB-Editionen 24. Literarisches Colloquium 1971. S. 23
[8] Balmes, Hans Jürgen: Lippenlesen, Ohrenbelichtung. Ein Gespräch mit Thomas Kling. Text + Kritik 147 / Thomas Kling. Richard Boorberg Verlag 2000. S. 15
[9] taunusprobe. lehrgang im hessischn. Kling, Thomas: Gesammelte Gedichte 1981-2005. DuMont 2006. S. 229

 

Dieser Artikel ist leicht abgewandelt in der Federwelt (Nr. 114 Oktober/November 2015) erschienen. Hier können Sie gleich weitere „Bausteine“ lesen: