Marion Röckinghausen: „der kleine Schlaf“ – Monatsgedicht für Mai

Kategorien: Projekt Monatsgedichte — Tags: — Michaela Didyk

„Versunkene Welten“ war die Monatsgedicht-Runde für Mai überschrieben. Favoritin ist Marion Röckinghausen, die in ihrem Gedicht mehrfach perspektiviert Vergängliches ans Licht holt:

der kleine Schlaf

ein Löwenmaul ein Grab ein Schweigen
ein Angesicht ein Augenblick
im Weiß des Herbstes ein Verweilen
auf rotem Laub ein Missgeschick

der überreifen Früchte Abend
der Sinn im Unsinn – greifbar nah
im Traumgesang der Lerche schlafend
ein Heut ein Hier ein Ist ein War

im Pinselstrich der Lüge Ende
ein Tropfen wie als Punkt gesetzt
vorbei – Geschichte wird Legende
ein Löwenmaul mit Tau benetzt

Marion Röckinghausen © Athena Verlag

André Schinkel war Juror des zehnten Monatsgedichtes. Der Autor und Lektor aus Halle, der u.a. die Redaktionsleitung der Literaturzeitschrift „oda – Ort der Augen“ inne hat, begründet sein Votum wie folgt:

Zugegeben, dieses Gedicht reibt sich an einem großen Vorbild – Benn in seiner Rückzugs-Phase, es nimmt im Ton die Gestik von „Ein Wort“ auf und variiert die Benn’sche Blumen-Metaphorik zu einem durchaus ambivalent aufzufassenden Löwenmaul hin. Es konterkariert zudem die vorgebliche poetische Regung unserer Zeit, mit der selbsternannte Lyriker aus Unkenntnis der Zusammenhänge de facto Anti-Lyrik betreiben. Man höre noch immer das weltliche Gekicher angesichts gereimter Gedichte – als resultierte nicht jede Befreiung aus dem Metrum zuvor aus einer Überwindung von Strenge. Die Verfasserin des „kleinen Schlafs“ beweist, indem sie etwas in den Augen Vieler Überkommenes aufgreift, Mut und vor allem eine Kraft der Beharrlichkeit, die auch etwas von Reverenz, Respekt vor der Dichtkunst in sich trägt. Mit Epigonentum hat dies jedoch nichts zu tun, man sieht das u. a. im durchaus eigenwilligen Gebrauch (oder Nichtgebrauch) der Interpunktion im Text, in der Traute, sich dem Wagnis teils nicht ganz reiner Reime auszusetzen. Beachtlich die zielstrebige Dynamik im Gedicht, die etwas Rondellhaftes hat und ein menuettartiges Ende baut, das frappierend das Erhabene im Mikrokosmos aussetzt: „vorbei – Geschichte wird Legende / ein Löwenmaul mit Tau besetzt“. Dieser Kosmos besteht aus Werden und Vergehen, die Lyrik ist, so man sie ernst nimmt, prädestiniert für derlei ‚letzte Dinge‘. Die Metaphern dafür sind zweischneidig und paradox: der Sinn wird bereits im Unsinn gespiegelt; das Löwenmäulchen übersteht die Geschichte, die, wie alles, im Rachen des Raubtiers verschwindet. „Grab“ und „Schweigen“ wohnen darin genauso wie das vitale Glitzern des Taus, sei es, dass er sich auf den Blättern der Pflanze oder auf den Lefzen des Mantikors findet. Der Schlaf als Bote des Sinkens, das Leuchten als flüchtiges Aggregat der Dunkelheit, die kommen wird. Indes, welch Trost zugleich, diesen Umstand der Welt wenigstens zeitweise bei Licht besehen zu dürfen. Es unterscheidet uns von den Steinen. Im Glücksfall kreuzt sich an diesem Punkt das Zeitliche mit dem Überzeitlichen – und es entsteht ein schönes, ein würdiges Gedicht.

Marion Röckinghausen, die schon in der ersten Monatsgedichtserie mit „kneipengeheimnis“ eine Runde für sich entscheiden konnte, braucht „das Schreiben wie die Luft zum Atmen“. Gedichte um sich, ob als inspirierende Buchlektüre oder auf eigenen Manuskriptseiten, und selbst mittendrin ins Schreiben versunken – das ist der Gewinnerin daher ein vertrauter Zustand.

Eine erste Vita der 1952 geborenen Bankkauffrau und Betriebswirtin finden Sie bereits hier. 2011 sind weitere Lesungen in Wien sowie im Radio dazugekommen. Ein Lyrikband ist im Entstehen, zu dem der neue Erfolg hoffentlich noch eine Extraportion Schwung bringt :-)
Einen herzlichen Glückwunsch an Dich, Marion, nach Marburg!

Nachtrag April 2013: Marion Röckinghausens oben bereits angekündigter Gedichtband ist gerade erschienen. Unter dem Titel die spur zurück geträumt versammelt die Autorin Liebesgedichte, in denen das lyrische Ich Entfremdung und Desillusion zurücklässt, um ähnlich einem Initiationsweg zur eigenen Vision zu finden. Marion Röckinghausen versteht sich auf die Kunst, mit teils schonungslosem Blick Alltagssituationen ins poetische Bild zu holen und die unterschwelligen Gefühlsdimensionen aufzudecken. Wie spritzig und leicht sich dabei Beziehungskrisen – zumindest lyrisch – bemerkbar machen können, zeigt kneipengeheimnis, das frühere Favoritengedicht.

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Die Juni-Runde der Monatsgedichte ist der Kunst gewidmet. „Gedichte auf Bilder und Skulpturen“ sind dieses Mal gefragt, die Wiener Verlegerin Viktoria Frysak hat die Jury übernommen.