Lyrik schreiben: Zutaten für ein gelungenes Gedicht

Kategorien: Lyrisches Handwerk,Themen der Lyrik — Tags: — Michaela Didyk

vier-bunte-federn-als-metapher-fuer-das-dichten-unternehmen-lyrik.png

Was versteht man unter Lyrik, was unter einem Gedicht?

Lyrik, mitunter auch Poesie, nennt man seit dem frühen 18. Jahrhundert die Gesamtheit der Gedichte und grenzt sie mit diesem Gattungsbegriff von Roman und Erzählung (Epik) oder vom Theaterstück (Dramatik) ab. In der Antike zählte man noch jegliche Versdichtung dazu, die zur Musik der Lyra, sprich: Leier vorgetragen wurde. Den vom Instrument abgeleiteten Namen nutzen wir zwar noch immer. Doch die Zuordnung der Texte hat sich im Lauf der Jahrtausende verändert. Der im Anfang wichtige Bezug zur Musik ist in den Hintergrund gerückt.

Was macht also heute einen lyrischen Text aus? In der Vielfalt aller Gedichte quer durch die Epochen gibt es nur einen kleinen gemeinsamen Nenner. Denn weder Reim noch Versmaß, weder feste Form noch freies Sprachspiel, geschweige denn Innerlichkeit und Gefühl müssen Bestandteil eines Gedichts sein. So rechnet man nach Dieter Burdorf zur Lyrik nur die

mündliche oder schriftliche Rede in Versen, [… die] durch zusätzliche Pausen bzw. Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsform der Alltagssprache abgehoben [ist]. [1]

Diese Äußerung muss sich außerdem vom szenischen Dialog, wie er in Versdramen üblich ist, unterscheiden.

Eine fremde Sprache mit eigenen Regeln

Kurze, oft wenige Zeilen auf sonst leerer Seite – Gedichte fallen schon durch ihr Erscheinungsbild auf. Die Optik macht schnell deutlich, was hinter der spröden Definiton steckt: Anstatt Fließtext stehen – gerade in der modernen Lyrik oft mit Verzicht auf Satzzeichen und Großschreibung – lose gereihte Wörter, Satzfragmente auf dem Papier.

Was wir in Prosa als Gestammel empfinden würden, akzeptieren wir im Gedicht. Denn lyrische Texte folgen ihren eigenen Regeln.

Beim Dichten verwenden Sie zwar die deutsche (oder englische, französische et cetera) Sprache. Dennoch verhält sich diese anders, widerspenstig sogar. Sie klammert das Wissen über die Norm(alsprache) nicht aus – sabotiert es jedoch. Wie sollen Leser/innen eine Reihe aus Substantiven deuten ohne ein Verb, das einen Bezug herstellt? Warum wiederholen sich Wörter, wenn wir doch gelernt haben, dass Abwechslung stilvoller ist? Wieso brechen Sätze mittendrin ab und scheinen in neuer Zeile anders weitergeführt?

  • Der entscheidende Unterschied:

Es sind bestimmte Gestaltungsmomente, die ins Auge stechen oder das Ohr erreichen und auf die wir beim Schreiben wie beim Lesen aufmerksam werden (müssen). Die Information, die wir im Alltag möglichst eindeutig formulieren, um Missverständnisse auszuschließen, wird in der Lyrik zur Nebensache. Nicht was ausgesagt wird, ist von Bedeutung, sondern wie es ausgedrückt wird.

Als Lyriker/in wollen Sie Eichendorffs berühmtes „Zauberwort“ treffen, das Ihre Leser oder Zuhörerinnen im Innersten bewegt. Dafür gestalten Sie die Sprache als Ihren wichtigsten „Werkstoff“. Sie beschreiben nicht den Frühling oder eine Gefühlslage. Sondern Sie schaffen mit Ihrem Gedicht, wie es der österreichische Dichter Ernst Jandl (1925-2000) forderte, ein „Erlebnis aus Sprache“, das den Leser wie eine Krankheit ansteckt. Alles was nicht unmittelbares Erlebnis sein könne, so Jandl, müsse daher aus dem Gedicht verschwinden. Eine Krankheit werde übertragen und nicht nur gemeldet. Ähnlich verhalte es sich beim Gedicht:

ein Erlebnis haben wir, und es uns, wir müssen darin sein; ein Erlebnis wird mitgeteilt, heißt: wir sind nicht darin. [2]

Ziehen Sie Ihre Leser/innen also in den Bann. Sie finden die Zutaten für Ihren Zaubermix auf den unterschiedlichen Gestaltungsebenen. Einige dieser Arbeitsstufen lernen Sie im Folgenden kennen.

Der Zeilenbau

Bereits die Gedichtzeile sorgt für Sprengkraft und deutet die Spannung zwischen poetischer und normaler Sprache an. Anders als beim Fließtext ist die Länge einer Zeile begrenzt; der dadurch nötige Umbruch in eine neue kündigt die Versrede an. Denn ein lyrischer Text muss aus mindestens zwei Zeilen bestehen. Aus einer allein wäre nicht ersichtlich, ob es sich nicht nur um ein paar hingeworfene Worte oder einen kurzen Prosasatz handelt.

Wie Sie nun die Verszeile und Satzeinheit aufeinander beziehen, erzeugt nicht nur Reibung, sondern gibt Ihrer Aussage auch einen Grundton. Beim Zeilenstil laufen Satz oder Gliedsatz parallel zum Vers, das Satzende fällt mit dem Zeilenende zusammen. So entsteht eine harmonische Einheit, die über Einschübe oder Kurzsätze verlebendigt werden kann:

Verbotsschilder sprechen für sich./
Und dennoch: Ich pfeif aufs Verbot!

Rolf Bossert, 1952-1986

Lassen Sie den Satz jedoch beim Hakenstil oder Zeilensprung/Enjambement am Versende abrupt abbrechen, entsteht ein Stau und zugleich eine Beschleunigung, weil in der künstlich erzeugten Pause der Satz dennoch sofort weitergelesen werden will.

[…] ohne Zweifel mein/
Lieber aber das eine er läßt es/
vorbeigehn […]

Ralf Thenior, *1945

Mit einem Enjambement setzen Sie starke Akzente und spielen sogar Wörter gegeneinander aus. Denn in den Folgezeilen können sich, wie im Beispiel oben, neue Bezüge ergeben, sodass der Sinn mehrdeutig wird. Zwischen den Wörtern und Satzteilen entstehen Lücken, in denen die Leserin zu kombinieren beginnt und dabei eigene Vorstellungen und Erfahrungen einflicht.

Mit Stilmitteln Ordnung schaffen

Gedichte müssen nicht kurz sein, sind es aber oft. Jedes Wort, jedes Satzzeichen wird im Konzentrat weniger Zeilen poetisch „aufgeladen“. Lyrische Texte holen also nicht weitschweifig aus, sondern verknappen, lassen Bezüge offen, um den Leser zu eigenen Assoziationen anzuregen.

Wenn Sie jedoch in Ihrem Gedichtentwurf rigoros streichen, bis lediglich Satzrelikte oder einzelne Wörter übrig bleiben, benötigen Sie eine Struktur, die die Syntax und Grammatik der Normalsprache ersetzt. Wie sollte die Leserin, der Zuhörer sonst eine Ordnung im Gedicht erkennen?

Vielfältige Stilmittel, auch Figuren genannt, bieten sich an, Wörter und Satzteile über die Zeilen und Gedichtstrophen hinweg zu verknüpfen. Die beiden Grundprinzipien Wiederholung und Gegensatz sind das Geheimnis in diesem neuen Ordnungssystem.

Nur der Steurer noch, der wacht und steht!/
Nur der Wind, der mir im Haare weht!“

Conrad Ferdinand Meyer, 1825-1898

Wir waren leicht als Vögel, schwer als Bäume

Ingeborg Bachmann, 1926-1973

Wenn Verszeilen mit gleichen Worten beginnen, sehen wir sie als Einheit. Wenn Worte sich mehrfach wiederholen, achten wir auf die Nuancierungen, die vielleicht in einer veränderten Vorsilbe oder Zeitstufe stecken. Alliterationen schweißen Wörter über den gleichbleibenden Anlaut eng zusammen.

In solch geballter Sprachgestaltung bekommen lyrische Aussagen ihr Gewicht, da mit jeder Wiederaufnahme eines Wortes, Satzteils oder Klangmusters auch eine Steigerung geschieht. Sind zusätzlich Gegensätze eingewoben, schärfen sich Konturen und die Aussage spitzt sich weiter zu.

Ohne Bilder keine Lyrik

Kunst ist Denken in Bildern – so sagt man oft, und der Satz scheint auf die Lyrik zugeschnitten. Kühne Metaphern, Symbole oder Vergleiche als die drei wichtigsten Bildmittel überraschen uns, indem sie mit wenigen Worten fremde Welten „erschaffen“. Wofür Erklärungen lange Textpassagen benötigen, geschieht auf der Bildebene in Windeseile: Wir begreifen intuitiv die Zusammenhänge. Nicht unser Kopf stimmt (nur) zu, wir sind vor allem gefühlsmäßig angesprochen.

Nicht die Fülle einzelner Motive zählt beim Aufbau eines Bildes, sondern wie sie miteinander verknüpft werden, um letztlich eine Einheit herzustellen. Voraussetzung für ein gelungenes poetisches Bild ist eine genaue Beobachtung. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott (*1965) fordert, dass man

Dinge oder Motive zu Ende denkt, Analogien zusammen- und weiterführt. [3]

Wenn Sie – etwa mit Gabriele Ricos Cluster-Methode [4] – verschiedene Sinneskanäle öffnen, und entsprechende Bildfacetten zutage fördern, erzeugen Sie mit der Beschränkung auf wenige, ja sogar auf ein einziges Bild mehr poetische Wirkung als mit einer Überfülle untereinander bezugsloser oder schräger Bildmotive.

Mit Kitsch und Klischee droht eine zweite Gefahr auf dieser Gestaltungsebene: Mit Standardformeln lassen sich keine neuen Bildhorizonte öffnen, während sich bei Pathos und Kitsch erhabene oder übertriebene Bildmotive als „Hohlform“ entlarven.

Ebenso gelten Redewendungen als „verblasste“ Metaphern. Bringen Sie also wieder Farbe ins Bild! Wählen Sie eine Wendung oder ein Sprichwort aus und nehmen Sie die Wörter einzeln unter die Lupe. Ergibt sich hier mit Stilmitteleinsatz, mit Wiederholung oder Gegensatz eine Gelegenheit, Bekanntes zu verfremden und die Sicht auf den Kopf zu stellen?

Auf den Klang kommt es an

Bild und Klang sind Grundzutaten der Lyrik. Beide gehören zu den Eindrücken, die wir „rechtshirnig“ verarbeiten und die unmittelbar auf unsere Gefühle zielen. Dabei beeinflusst der Klang subtiler als das Bild, auch suggestiver. Denn das Hören ist im Gegensatz zum Sehen pausenlos auf Empfang. Das lässt sich für Gedichte nutzen.

Nehmen wir die Alliteration, bei der Sie den Anlaut – und zwar auf die betonte Hauptsilbe des Wortes bezogen – als Klangverstärker verwenden. Wenn Sie auf die Werbesprüche im Alltag achten, dann wissen Sie, warum sich mancher Werbespot festsetzt. Alliterationen können sprachspielerisch ein ganzes Gedicht durchweben, doch auch einzelne Passagen bauen in solcher Vokal- oder Konsonanten-Bündelung einen Klangraum auf, dem sich Leserin und Leser kaum entziehen können.

  • Auf in die Praxis!

Das Wissen, wie die Buchstaben in ihrer Lautgestalt wirken, ist ein reicher Erfahrungsschatz für Ihr Dichten. Beobachten Sie im Alltag, in welcher Klanghöhe, mit welchen Ausrufen Menschen ihre Gefühle zum Ausdruck bringen.

Schreiben Sie eigene Texte oder auch Gedichte bekannter Autor/innen um, indem Sie sich – Ernst Jandls Gedicht „ottos mops“ ähnlich – nur auf einen Vokal beschränken. Sie können bei solchen Lipogrammen, in denen Sie auf bestimmte Buchstaben verzichten, nicht nur Klangspiele erzeugen. Die Wortnot gerade beim Wegfall ganzer Buchstabenreihen macht Sie auch erfinderisch und ist fürs Dichten ein lohnenswertes „Trainingsprogramm“.

Gebundene Sprache und freier Vers

Zum Klang gehört neben Metrum und Rhythmus natürlich auch der Reim. Doch die deutsche Sprache tut sich schwer. Die zum Reim tauglichen Wörter sind verbraucht, das Paradepaar Herz/Schmerz zeigt es.

In meinem Lied ein Reim/
Käme mir fast vor wie Übermut

Bertolt Brecht (1898-1956)

So schrieb der Dichter 1939 in seinem programmatischen Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ und verwendete den im 20. Jahrhundert erstarkenden freien Vers. Mit einem Reimkorsett, das die Sprache zudem in der Regelmäßigkeit eines Taktes bindet, ist nicht nur das Dichten eingeengt.

Das damit verbundene harmonische und in sich abgeschlossene Weltbild lässt moderne Lyriker/innen aus konventionellen Formen ausbrechen und den Reim anders einsetzen. Als akustisches Phänomen erscheinen die „Wortzwillinge“ auch auf beliebige Gedichtstellen verteilt. Die „routinierte“ Endreim-Kette wird gelöst zugunsten eines größeren Spielraums von Wortklang und Echo.

Mit den freien Versen unserer Zeit haben die stark reglementierten Gedichtformen nicht ausgedient. Sie stellen einen reichen Schatz zur Verfügung, der zu Schreibexperimenten einlädt. Lied, Sonett, Haiku oder Pantum, um nur einige zu nennen, prägen mit ihrer strikten Vorgabe an Verszeilen, Metrum und Strophenanzahl die Aussage in jeweils bestimmter Weise.

Mit dem Wechsel der Form ändert sich auch die „Botschaft“. Im Sonett teilt sich das lyrische Ich anders mit als im Lied, das klassische Haiku schließt in seinen 17 Silben ein Ich sogar vollkommen aus. Auch wenn Sie auf freie Verse eingeschworen sind, lohnt sich ein Ausflug in die Tradition, um am eigenen Handwerk zu feilen und Neues zu probieren.

Das lyrische Ich als Spielfigur

Die Verfremdung, die die Sprachgestaltung mit sich bringt, abstrahiert die persönliche und private Ebene. Zwar mag in vielen Texten ein biografischer Faden rekonstruierbar sein. Er bleibt jedoch irrelevant. Texte wirken, auch wenn wir ihre Urheber nicht kennen.

Das Erlebnis, über das Sie schreiben oder das am Anfang eines Gedichtes steht, ist lediglich „Stoff“, der bearbeitet werden will. Nur so entsteht ein weitmaschiges Gewebe, in dem auch Leser/innen mit ihren Ideen, Vorstellungen, Erfahrungen anknüpfen können.

Wer im Gedicht spricht, ist daher immer eine Erfindung, eine Spielfigur des Autors, selbst wenn ein „Ich“ – nämlich das lyrische Ich – im Mittelpunkt steht. Es ist eine Rolle, in die auch Leser und Leserin hineinschlüpfen, vorausgesetzt, sie ist für eine solche Identifikation genügend leer: Das geschieht durch intensive Sprachgestaltung, nicht durch bloßen Gefühlsausdruck. Nur so stecken lyrische Texte unmittelbar an, und Ihre Leser/innen sind vom Gedicht „infiziert“ mittendrin.

  • Quellenangaben:

[1] Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. J. B. Metzler Verlag. Stuttgart 1997
[2] Ernst Jandl: Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie. In: Die schöne Kunst des Schreibens. Luchterhand-Literaturverlag. Darmstadt 1976
[3] Raoul Schrott: Pamphlet wider die modische Dichtung. In: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Politisches, Privates. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1999.
[4] Gabriele L. Rico: Garantiert schreiben lernen. Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln – ein Intensivkurs auf der Grundlage der modernen Gehirnforschung. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2004

.

Dieser Artikel erschien leicht variiert in der Federwelt (Nr. 112 Juni/Juli 2015) als Auftakt der zehnteiligen Serie Dichten lernen. Erste Beiträge lesen Sie im Blog der Autorenwelt, die weiteren folgen sukzessive hier im Unternehmen Lyrik Blog.