Frauen in den Kanon! Die Autorinnen der Gruppe 47

Kategorien: Frauen in den Kanon!,Literatur- & Kulturbetrieb — Michaela Didyk

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Im Kanon sichtbar werden

Nicole Seifert machte Furore. Schon vor drei Jahren prangerte die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin mit ihrem Buch Frauen Literatur. abgewertet, vergessen, wiederentdeckt [Amazon-Partnerlink] Mechanismen des Literaturbetriebs an, durch die Autorinnen gegenüber Autoren das Nachsehen haben, in der Literaturgeschichte meist gar nicht vorkommen und regelrecht vergessen werden. Ihre Werke als „Frauenliteratur“ tituliert, sind allein schon durch diese Kategorisierung abgewertet; überdies schiebt man(n) sie allzu leichtfertig in den Unterhaltungssektor ab.

Weniger sichtbar, weniger Aufmerksamkeit: der verwehrte Kanon

Eingespielte Verfahren halten dabei das System am Laufen. Das bestätigt auch das von Veronika Schuchter geleitete Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck. [1] Die überwiegend männlichen Kritiker bevorzugen die Neuerscheinungen ihrer Geschlechtsgenossen. Autorinnen werden weniger beachtet und somit in den Feuilletons weniger sichtbar – mit der Folge, dass ihnen auch der Buchhandel weniger Aufmerksamkeit schenkt und sich außerdem bei geringer Nachfrage Neuauflagen nicht lohnen. Wie sollte also eine Literatur, die nahezu unsichtbar ist, Zugang in den Kanon finden!

Männliche Weltsicht allenthalben

Der Kanon, der die Richtschnur für Qualität vorgibt, ist männlich dominiert. In der Schule stehen männliche Autoren auf der Lektüreliste, ähnlich im Literaturstudium. Romanfiguren prägen die männliche Weltsicht. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger fasst zusammen, was dadurch mit Leserinnen geschieht:

Wir, die wir gelernt haben, wie Männer zu lesen, unterdrücken das Unbehagen, denn wir wissen nicht recht, wohin damit. Eigentlich wollen wir sagen: „Wir fühlen uns in den Helden ein, also sind wir wie sie“ – und wissen doch, wir sind’s nicht. [2]

Die vergessenen Autorinnen

In ihrem jüngst erschienenen Buch ‚Einige Herren sagten etwas dazu’ [Amazon-Partnerlink] stellt Nicole Seifert die Autorinnen der Gruppe 47 vor. Dabei denkt man in der Regel nur an Ingeborg Bachmann, zudem vielleicht an Ilse Aichinger. Doch auch Ingeborg Drewitz und Gabriele Wohmann, Gisela Elsner und Helga M. Novak waren den Einladungen von Hans Werner Richter, dem Initiator der Gruppe 47, gefolgt. Ihre Namen und Werke kennt man im Literaturbetrieb, wenngleich wenig im Zusammenhang mit der Gruppe 47. Vergessen und wiederentdeckt –  das trifft auf Ruth Rehmann und Ingrid Bachér, deren Werk in den letzten Jahren neu aufgelegt wurde.

Autorin oder Freiwild

Seifert stellt jedem Kapitel zwei Zitate voraus, die die Kluft zwischen den Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 drastisch vor Augen führen. Wenn Ilse Aichinger „eigentlich die Literatur interessiert [hat]“ [3] zeigt es, dass hier eine Erwartung unerfüllt blieb. Sie musste sich vor allem gegen die nächtlichen Besucher in ihrem Zimmer wehren. Die Dichterin, so notiert es Hans Werner Richter „[war] eine schöne Frau, die einige meiner Tagungsmitglieder so stark anzog, daß sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren.“ [4] Schärfer bringt es Elisabeth Plessen zum Ausdruck, die 1967 zur Gruppe gestoßen war: „Die Frauen waren eigentlich Freiwild zu dieser Zeit. Sie hatten den Mund zu halten und mit ins Bett zu gehen.“ [5]

Weibliche Anpassung gefordert

Die Reaktion der Autorinnen auf die Treffen lassen erahnen, wie sehr sie Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit ausgesetzt waren. Sie waren nicht ihres Schreibens wegen beim Treffen, welche Illusion! Sie wurden als Objekt der Begierde vereinnahmt. Richter suchte einerseits „gut schreibende Frauen, die keine sein wollen“ [6], andrerseits wünschte er sich zum 15jährigen Jubiläum „schöne Mädchen von 15 bis 45 für das Fest“ [7].

Die Autorinnen sollten sich nicht hervortun, und er wirkte kräftig dabei mit, indem er sie in der Geschichte der Gruppe 47 kaum erwähnte. Sie wurden zwar zu Königinnen und Heiligen stilisiert, die Wahrnehmung als Autorin wurde ihnen verweigert. Zu herausfordernd waren die Themen der Schriftstellerinnen, ihre Suche nach neuen Ausdrucksweisen, ihre Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und ihr Anschreiben gegen die gesellschaftlichen Verdrängungsmuster. Die Texte der Autorinnen hatten hohes Niveau und waren Experimente mit neuen stilistischen Verfahren. Sie wählten jedoch einen anderen Blickwinkel auf die Welt, der für die männlichen Gruppenmitglieder nicht nachvollziehbar war und dem sie sich nicht öffnen wollten.

Männliche Überheblichkeit und Misogynie

Die bereits erfolgreiche Künstlerin und Ethnologin Ilse Schneider-Lengyel stellte ihr Haus am Bannwaldsee nahe Füssen für das Gründungstreffen zur Verfügung und las als erste und einzige Autorin bei dieser Premiere. Ihre surrealistischen Gedichte stießen im Dichterkreis auf Ablehnung. Kein Wunder, waren die Kriegsheimkehrer doch auf die ‚Kahlschlagliteratur’ eingeschworen, mit der sie glaubten, die Vergangenheit bewältigen oder besser: verdrängen zu können. Sie nahmen Schriftsteller wie Ernest Hemingway und William Faulkner zum Vorbild, die Ereignisse und Fakten betonten, nicht Seelenlagen erkundeten. Zudem waren surrealistische Schreibverfahren, wie sie Schneider-Lengyls einsetzte, den meisten anwesenden Autoren schlichtweg unbekannt.

Dass sie weder Neugier noch Verständnis aufbrachten, sich mit den Gedichten ihrer Kollegin auseinanderzusetzen, macht der überhebliche Verriss von Heinz Piontek deutlich: „Ich habe von den etwa sechzig magenverstimmenden Texten nur sechs gelesen. Und hinterher habe ich einen Kognak trinken müssen. Und gleich darauf noch einen.“ Ästhetische Kriterien werden anders angelegt. Nicole Seifert hat sie durch genaue Analyse herausgearbeitet, die den Zugang in einen Kanon öffnen kann.

Quellen:

[1] „Im Feuilleton dominieren männliche Kritiker“. Veronika Schuchter im Gespräch mit Tanya Lieske. Interview: Deutschlandfunk am 22.05.2018 [letzter Aufruf 28.03.2024]
[2] Ruth Klüger: Frauen lesen anders. 2. Aufl. München: dtv 1972, S. 92
[3] Nicole Seifert: „Einige Herren sagten etwas dazu“. Die Autorinnen der Gruppe 47. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024, S. 59
[4] Ebd.
[5] Ebd. S. 239
[6] Ebd. S. 40
[7] Ebd. S. 162

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