Spoken Word & Poetry Slam – reloaded

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Buchstaben und Wörter in Aktion

Auch diese zweite Überschrift könnte den folgenden Text gut auf den Nenner bringen. Zum Baustein Wörter als lyrischer Werkstoff kommt nun nämlich die Performance. Bühne frei also für Spoken Word / das gesprochene Wort im Poetry Slam. Und Applaus für die Protagonistin Nora Gomringer sowie ihre Kollegen Bas Böttcher und Philipp Scharrenberg. Alle drei haben in den folgenden Videos Buchstaben und Wörter zu ihrem Thema gemacht und mit Leben gefüllt.

Reloaded kann sich ebenso auf die Wiederaufname meines alten Blogbeitrags beziehen. Denn 2010 postete ich bereits Philpp Scharrenbergs Darbietung „Vom Verb“ zusammen mit Hinweisen auf einschlägige Veranstaltungen. Diese sind zwar inzwischen längst passé, doch Scharrenbergs Auftritt ist immer noch und wieder aktuell. So steht das Video in neuem und erweitertem Umfeld. Auch mit der Ergänzung, dass sich der Slammer 2016 zum zweiten Mal den deutschen Meistertitel holte und damit seinen ersten Champion-Erfolg 2009 auffrischte.

Bevor es mit „Scharri“, wie sich der Slam-Poet in frühen Jahren nannte, gleich weitergeht, noch ein paar Sätze generell zum Spoken Word & Poetry Slam:

Die Spoken Word-Bewegung

Spoken Word reiht sich als Genre in die mündliche Literatur-Tradition ein. Man versteht darunter eine darstellende Kunst, bei der die Lyrik vor dem Publikum zum gesprochenen Wort wird. Sprachspiel, Intonation und Körperbewegung sind wichtig. Musik kann wie bei Hip-Hop und Jazz Poetry den Vortrag ergänzen. Beim Poetry Slam, der am meisten verbreiteten Form des Spoken Word, fehlt sie.

Wie läuft ein Poetry Slam ab?

Im Dichterwettstreit kann ein/e jede/r selbstverfasste Texte vorlesen, sie auswendig  oder aus dem Stegreif vortragen. Das Publikum wertet mit entsprechender Beifallstärke oder mit Punkten. Die Slammer sind einem Zeitlimit unterworfen. Requistiten und Gesang sind verboten. Die Slambühne ist eine reine Sprechbühne, der Text allein soll – nur durch Mimik und Gestik unterstützt – seine Wirkung entfalten.

Philipp Scharrenberg oder das Verb hat seinen Auftritt

„Poetry, Geschichten, Raps & Reime“ versammelt Philipp Scharrenberg in seinem derzeitigen Solo „Germanistik ist heilbar“. Er muss es wissen. Denn spätestens seit 2006, als er den Poetry Slam für sich entdeckte, richtet Scharrenberg sein einstiges Studienfach nach eigener Vorstellung aus. Mit Erfolg – wie nicht nur seine mehrfachen Auszeichnungen auf der Slam-Bühne zeigen. Er ist auch  Deutscher Kabarettmeister der Saison 2013/2014.

Wie sich das Lesen von Gedichten zur lebendigen Lyrik auf der Bühne wandelt, führt Philipp Scharrenberg mit seiner Darbietung des Earlkönig vor. Von der Rezitation des Goethe-Gedichts über eine Rap-Version zur Spoken Word-Fassung wird schnell anschaulich und hörbar, worin die Unterschiede liegen. Diese und andere Performances können Sie auf der Website des „Kampfdichters“ aufrufen. Den zum Thema Wort und Werkstoff passenden Videobeitrag sehen Sie gleich unten. Viel Vergnügen bei dieser überraschenden Perspektive auf das Verb.

Spoken Word von A bis Z: Nora Gomringer spricht das „Ursprungsalphabet“

Auch Nora Gomringer stellt in ihren Auftritten ihre Sprachartistik unter Beweis. Von 2001 bis 2006 war die Lyrikerin im Slam aktiv. 2011 wurde sie  mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache ausgezeichnet, weil sie der Slam Poetry als „einer neuen Form des Dichtens“ in Deutschland zur Popularität verholfen habe.

Im folgenden Video stellt Nora Gomringer sich mit ihrem „Ursprungsalphabet“  vor: „Ich bin / Ariadne, die dem Faden, dem roten, wollenen folgt“. Einen freien Hörbuch-Download mit dieser Präsentation von A bis Z gibt es bei Vorleser.net. Auf der Website der Lyrikerin warten weitere eindrucksvolle Projekte und Clips auf Sie.

2011 widmete die Schweizer Literaturzeitschrift Orte ein Heft Nora und ihrem Vater Eugen Gomringer. In einem der Artikel blickt die Tochter auf das Haus ihrer Kindheit zurück und kommt auf die Bedeutung der Wörter darin zu sprechen:

Das Haus meines Vaters ist die Adresse seiner Wörter […] Und in diesem Haus war auch Platz für meine ersten Wörter, die ersten Schriften, die Texte meiner Mutter, ihre Vorlesungen, denen ich am Badewannenrand lauschte. Das Gretchen Sackmaier, die Märchenwesen Becksteins, der Grimms, Friedrich Rückert und Heinrich Heine und die Erzählungen über eine weit ausgestreute Familie, die wir sind in vielen Häusern.

Häuser, die uns dienen als Erinnerungsspeicher mit der menschlichen Speichereinheit Sprache.

Bas Böttcher und die Logik der Doppelwörter

Bas Böttcher war in den 1990er Jahren Mitbegründer der deutschsprachigen Poetry-Slam-Szene. 1997 gewann er die ersten deutschen Meisterschaften. Inzwischen tourt(e) er hoch anerkannt mit seinen Texten rund um die  Welt. Böttchers Erfindung der Textbox wurde im Pariser Centre Pompidou und der Neuen Nationalgalerie in Berlin ausgestellt. Sie war auf der Buchmesse in Peking zu erleben. Auf kleinstem Raum und trotz lauter Kulisse können Performances stattfinden, indem das Publikum mit Kopfhörern ausgestattet der/dem Vortragenden lauscht.

Die Wirkung der Gedichte ist bei solcher Abschirmung von der Außenwelt intensiv und steigert den von Böttcher gewünschten Effekt.  Denn die Präsentation macht für den Dichter erst Lyrik aus: „Gedanken werden poetisch durch Klang und Rhythmus vermittelt.“ Das zeigt der Slam-Poet auch mit seinen Doppelwörtern, deren Zusammensetzung er im Hin und Her der Worte aufdeckt.

Auch hier lädt natürlich Bas Böttchers Website zu weiteren Entdeckungen ein. Mit seinen Poetry Clips gibt er der Lyrik ein neues Format. Denn während Buch und CD der Performance nur anteilig gerecht werden, können die kurzen Filmsequenzen auch die Mimik und Körperbewegung einfangen. Bestes Beispiel, um damit gleich zu punkten: der Poetry Clip Dot Matrix.

Zum zwanzigsten Jubiläum der deutschsprachigen Poetry-Slam-Bewegung erschien 2014 die von Bas Böttcher und Julian Heun besorgte Textsammlung Die Poetry-Slam-Fibel: 20 Jahre Werkstatt der Sprache. 55 Autorinnen und Autoren stellen in 86 Texten die Sprache als ihren Werkstoff ins Rampenlicht. Dieses Thema ist wohl für alle Lyriker/innen relevant und von Gewinn.

[Die erste Fassung des Beitrags von 2010 wurde aktualisiert und erweitert.]